Viktor Orbán hat nach zwölf Jahren an der Macht und trotz Nähe zu Putin bei der Wahl und trotz einer geeinten Opposition erneut eine Zwei-Drittel-Mehrheit geschafft. Wie ist dieser Sieg zu erklären?

PAUL LENDVAI: Da gibt es mehrere Gründe. Der wichtigste ist, dass sich Orbán sehr geschickt zum Pazifisten stilisiert hat, der die ungarische Nation davor bewahre, in den Krieg hineingezogen zu werden. In der Opposition seien nur Kriegstreiber, weil sie sich für Hilfe und Waffen an die Ukraine ausgesprochen haben. Und er hat behauptet, die Opposition wolle sogar ungarische Soldaten in die Ukraine schicken – was gar nicht stimmt. 2015 hat Orbán bei Umfragen gepunktet, indem er massiv die Angst vor Flüchtlingen geschürt hat. Diesmal hat er eine große Angst-Psychose vor dem Krieg erzeugt. Und das hat natürlich gewirkt.

Was spielte noch eine Rolle?

Der zweite Grund war, dass das alles im ganzen Land auf riesigen Plakaten und großflächig in den Staatsmedien verbreitet wurde. Orbáns letzte Wahlrede wurde im Staatsfernsehen an einem Tag neun Mal wiederholt, auch in allen wichtigen Zeitungen und im Internet. Die totale Kontrolle der Medien hat gewirkt.



Warum konnte die Opposition, die sich zu einem Bündnis zusammengeschlossen hatte, nicht punkten?
Die Opposition scheint ihre Kraft bei den Vorwahlen verbraucht zu haben. Das Bündnis aus sechs verschiedenen Parteien blieb letztendlich blutlos, mit einem Mann an der Spitze, der zwar sympathisch und nicht korrupt ist, der aber als Parteiloser und ohne eigene Gruppierung hinter sich in den Wahlkampf zog und auch keine Medienmacht besitzt. Das hat nicht funktioniert.

Ist es überhaupt noch möglich, Orbán abzuwählen?

Es kann sein, dass sich Ungarns Regierung längerfristig in eine Art Salazar-Regime entwickelt – wie Portugal ab 1932, wo aus einem Wirtschaftsfachmann an der Staatsspitze ein Diktator wurde, mit wirtschaftlicher Stabilität und politischer Repression. In Ungarn gibt es derzeit keine politische Repression; Demonstranten werden nicht eingesperrt. Aber es ist nicht auszuschließen, dass es in Folge der schwierigen Lage der Weltwirtschaft und der unglaublichen Fehler in der Wirtschaftspolitik in Ungarn, inklusive der enormen Wahlgeschenke, die Orbán verteilte, noch zu einem bösen Erwachen kommen wird. Die Bevölkerung wird für diese Geschenke die Rechnung bezahlen müssen. Aber dann wird es wahrscheinlich zu spät sein. Orbán ist erst 59 Jahre alt. Er kann noch lange bleiben. Das ist eine folgenschwere Entwicklung für Ungarn und eine Warnung an alle Länder, was passiert, wenn man Medien und Rechtsstaat nicht verteidigt.



Warum haben die Ungarn diese Entwicklung toleriert?

Das Wahlergebnis ist sicher auch Folge dessen, dass die autoritäre Zeit des Kádár- wie auch des Horthy-Regimes, die beide lange dauerten, in Ungarn tiefe, nachhaltige Spuren hinterlassen hat. Daraus ist offenbar eine Gesellschaft entstanden, in der politische Lethargie und Müdigkeit vorherrschen. Außerdem ist eine Rechtswende zu beobachten. Es gibt eine neue rechtsextreme Partei, „Unsere Heimat“, die es mit sieben Abgeordneten ins Parlament schafft. Es ist leider ein sehr trauriger Tag für jene Ungarn, die sich eine liberale Demokratie wünschen und dafür eintreten. Ich halte das Ergebnis für sehr bedenklich, denn ich fürchte, dass Orbán aus der Geschichte nicht lernt, sondern sich noch bestärkt fühlt, zu zeigen, welche Handlungsmacht er jetzt hat.

Welche Folgen wird das haben?

Ich gehe davon aus, dass er sich wieder stärker dem Osten zuwenden wird und weniger dem Westen. Innenpolitisch wird er nach diesem vierten Wahlsieg natürlich noch weniger Konzessionen machen als bisher.

Was bedeutet es für EU und Nato gerade jetzt in der Ukraine-Krise, wo Einigkeit notwendig ist, Orbán als Partner zu haben?

Die Lage ist schrecklich, weil Orbán, genauso wie Serbiens Präsident Vucic, Putin mit keinem Wort kritisiert hat. Dieses Wahlergebnis in beiden Ländern ist daher ein sehr wichtiger Erfolg für Putin. In Serbien gibt es traditionell große Russen-Freundschaft. Und in Ungarn hat man 1849, als der Zar den Habsburgern zur Hilfe gekommen ist, genauso vergessen wie 1956, als Moskau den Ungarn-Aufstand niederwalzte. Orbán hat ein Zweckbündnis mit Putin. Beide sind korrupt. Beide haben starke Gruppen hinter sich. Orbán war der erste und der letzte EU-Regierungschef, der beim belarussischen Diktator Lukaschenko war. Und er war kurz vor dem Angriff auf die Ukraine bei Putin. Die Sanktionen wird Orbán nicht blockieren, das kann er sich nicht leisten; aber er unternimmt auch nichts gegen Putin und dessen Krieg. Sein Außenminister wurde mit dem höchsten russischen Freundschaftsorden ausgezeichnet, persönlich von Lawrow, inklusive Umarmung. Für die jungen Ungarn ist das eine Tragödie, die dem Exodus der Jugend ins Ausland Auftrieb geben wird. Aber ein Land kann man nicht von außen reformieren.

Die EU hält derzeit die Corona-Hilfsgelder für Orbáns Ungarn zurück. Wird sie dabei bleiben?

Ich hoffe, dass die EU auch in der Ukraine-Krise die Verletzung der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn und Polen nicht vergisst. In der Ukraine wird die Demokratie verteidigt. Man kann nicht gleichzeitig für Gruppen, die diese Demokratie und den Rechtsstaat, untergraben, in Ungarn und in Polen, weiterhin Milliarden zur Verfügung stellen. Das wäre ein ganz großer Fehler.