Tibor hat sich entschieden. Der bärtige Mittvierziger mit der blauen Baseballkappe hat in Ungarn Deutsch studiert, einst auf einer Skihütte in Tirol gearbeitet, jetzt wirbt er am Flussufer in Budapest Touristen an, um sie für eine Bootsfahrt auf der glitzernden Donau zu gewinnen. Sein Held ist Viktor Orbán. "Ja, ich war dabei, am 15. März, als wir zu Zehntausenden aufmarschierten vor dem Parlament, für Orbán und mit Schildern, die eine klare Botschaft hatten", sagt Tibor: "Nein zum Krieg!" Für ihn ist klar, dass Orbán genau dafür steht: für den Frieden; in Ungarn und überhaupt.
Das ist bemerkenswert, und es sagt einiges darüber aus, wie erfolgreich Orbán auch dann noch wahlkämpft, wenn alle Zeichen gegen ihn stehen: Denn diesmal geht es für ihn bei der Wahl am Sonntag um alles. Erstmals hat sich die Opposition unter dem parteilosen Spitzenkandidaten Péter Márki-Zay vereint und so aufgestellt, dass sie ihm gefährlich werden kann.
Zudem hat Orbán auch noch sein großes Vorbild in Moskau einen Strich durch die Rechnung gemacht – Wladimir Putin, dem er noch Anfang Februar einen Besuch am langen Tisch in Moskau abstatten durfte, hat ausgerechnet jetzt den Krieg in der Ukraine vom Zaun gebrochen: Einen Krieg, der so brutal auf Zivilisten zielt, dass Orbáns Freund der Kriegsverbrechen bezichtigt wird, einen Krieg, der in Ungarn nicht wenige auch an die russischen Panzer erinnert, die 1956 den ungarischen Aufstand niederwalzten.
Jahrelang galt Orbán als Moskaus wichtigster Verbündeter im Westen. Mit Kriegsbeginn saß Orbán zwischen allen Stühlen. "Hör zu, Viktor", hatte ihn der ukrainische Präsident Selenskyj beim EU-Gipfel direkt angesprochen. "Weißt du, was heute in Mariupol geschieht? Das ist ein Völkermord!", sagte Selenskyj. Orbán müsse sich entscheiden, auf welcher Seite er stehe.
Das tat er auch – auf seine Weise: "Orbán inszeniert sich heute als Friedensfürst – als einziger Garant einer friedlichen Zukunft Ungarns", erklärt Márk Kékesi, Soziologe in Budapest.
Ungarns Premier trägt die Sanktionen der EU gegen Putin mit, steht als Nato-Mitglied gezwungenermaßen hinter der Ukraine, vermeidet es aber, Putin offen zu kritisieren. "Unser Interesse besteht darin, nicht als Bauernopfer in einem fremden Krieg zu enden. In diesem Krieg haben wir nichts zu gewinnen", so Orbán in seiner Nationalfeiertagsrede. "Strategische Ruhe" nennt das der Premier.
Behauptungen
Zugleich bezeichnet er seine Gegner als "Kriegstreiber" und schiebt der Opposition die Behauptung in die Schuhe, sie wolle ungarische Truppen in den Krieg in der Ukraine schicken – was Márki-Zay bestreitet. Auch die Nato hat das gar nicht vor.
Die Opposition, die im Herbst mit ihrem Bündnis aus sechs Parteien kraftvoll in den Wahlkampf gestartet ist, um die Korruption, die wachsende Armut, den Streit um die Rechtsstaatlichkeit und die vielen Coronatoten anzuprangern, versucht, Orbáns Inszenierung als Friedensfürst etwas entgegenzusetzen. Während Orbán gegen Brüssel wettert, hat Márki-Zay sich klar als Vertreter des europäischen Lagers positioniert; er tritt für gemeinsame Maßnahmen mit EU und Nato ein.
Am Scheideweg
"Ungarn steht am Scheideweg", meint der 49-Jährige. "Diese Wahl ist eine Entscheidung zwischen Europa und Putin." Umfragen sehen beide Lager Kopf-an-Kopf – mit zunehmendem Vorteil für das Regierungslager.
"Orbán windet sich wie eine Schlange", meint Zsófia, eine Englisch-Studentin bei einer Wahlkampf-Veranstaltung der Opposition. "Für ihn ist billiges russisches Gas wichtiger als ukrainisches Blut – weil ihm das im Wahlkampf hilft." Zugleich tut sich die Opposition schwer, ihre Botschaften überhaupt ans Volk zu bringen. Fast 90 Prozent des ungarischen Medienmarktes stehen unter Kontrolle von Orbán-Getreuen. Ein Fernseh-Duell hat der Premier seinem Herausforderer verweigert. Ganze fünf Minuten bekam Márki-Zay im Staatsfernsehen, um frei, und nicht in mäßig vorteilhaften Zusammenschnitten zu den Zusehern zu sprechen.
Márki-Zay, selbst ein Konservativer, Christ und Vater von sieben Kindern, wird zugetraut, enttäuschte Orbán-Anhänger für die Opposition zu gewinnen. Doch fährt man in diesen Tagen durch das Zentrum der ungarischen Hauptstadt, gibt es nur eines, was ins Auge springt: große, gelblich eingefärbte Plakate zweier verschlagen dargestellter Herren; gefährlich seien die beiden, behaupten die Plakate: Márki-Zay und hinter ihm der frühere Premier und Sozialistenchef Ferenc Gyurcsány, der vor 15 Jahren mit seiner "Lügenrede" für Massenproteste sorgte.
Kaum Inhalte
Das ist denn auch Orbáns zentrale Wahlkampfstrategie über die "Friedensengel"-Botschaft hinaus: Der neue Oppositionschef sei nur eine Marionette der Linken. "Es ist billig und bösartig, einen Gegner so zu diffamieren", ärgert sich Zsófia. "Und es täuscht kaum darüber hinweg, dass Orbán nach zwölf Jahren an der Macht kaum noch inhaltliche Botschaften vertritt."
Stattdessen versuche Orbán, sich die Wahl zu kaufen, schimpft sie. Benzin, Hendlbrust und einige andere Grundnahrungsmittel seien vor der Wahl mit Preisdeckeln versehen worden. Familien und Pensionisten erhielten Sonderzahlungen. "Mag sein, dass ihm das jetzt Stimmen bringt", sagt Zsófia. "Doch nach der Wahl wird das ganze Land dafür bezahlen."