Die Angst vor dem Schreckgespenst in Form eines neuen Eisernen Vorhanges geht um. "Wenn es ihn gibt, wollen wir nicht dahinter sein", sagt Kasachstans Vize-Außenminister Roman Vassilenko mit Blick auf die westlichen Sanktionen gegen das Nachbarland. Das heißt: Der langjährige Verbündete Kasachstan deutet ein Abrücken von Russland an. Die ehemalige Sowjetrepublik und der heute neuntgrößte Staat der Erde teilt sich eine 6846 Kilometer lange Grenze mit Russland. Ein großer Anteil der kasachischen Bevölkerung, speziell im Norden des Binnenlandes, haben russische Wurzeln - die Beziehungen zum Nachbarn sind traditionell und historisch gut. Doch der Angriffskrieg in der Ukraine könnte dem guten Verhältnis nun ein jähes Ende bereiten.
Vassilenko rief westliche Investoren auf, das Geschäft in das an fossilen Energiestoffen reiche Land in Zentralasien zu verlagern. Zwar wolle man nicht, dass Unternehmen kommen, "nur um die Sanktionen gegen Russland zu umgehen", sagt der Minister. "Aber alle Unternehmen mit gutem Ruf, die ihre Produktion hierher verlagern wollen, sind willkommen." Bei der Verurteilung des russischen Einmarschs in die Ukraine durch die UN-Generalversammlung Anfang März hatte sich Kasachstan noch enthalten und eine Nichteinmischung in den Konflikt betont. "Es ist schmerzhaft für uns. Beide stehen uns nahe", erklärte Vassilenko damals.
Schwere Unruhen Anfang des Jahres
Noch im Jänner dieses Jahres wurde das Land am Kaspischen Meer selbst von schweren Unruhen geplagt: Friedliche Proteste gegen die Regierung, die sich an der Erhöhung der Gaspreise entzündet hatten, schlugen in blutige Ausschreitungen um. Beendet wurden sie schließlich mithilfe russischer Truppen - und das gewaltsam. Mehr als 200 Menschen wurden getötet, allein in Almaty sollen 160 Menschen ums Leben gekommen sein. Drei Monate nach der Niederschlagung der Anti-Regimeproteste habe sich die Lage im Land aber wieder stabilisiert, sagt der kasachische Botschafter in Österreich, Kairat Umarov, im Gespräch mit der Kleinen Zeitung.
"Grund dafür sind einerseits die Bemühungen der neuen Regierung, den Anforderungen der Gesellschaft gerecht zu werden, und andererseits die laufenden Ermittlungen gegen ehemals einflussreiche Persönlichkeiten", erklärt Umarov. Die prominenteste Festnahme von aktuell 15 untersuchten Fällen ereignete sich unlängst. Kairat Satybaldi, der Neffe von Ex-Staatschef Nursultan Nasarbajew, wurde wegen Verdachts der Veruntreuung von Geldern des größten Telekommunikationsanbieters des Landes inhaftiert. Das ist noch nicht alles: Auch laufen Ermittlungen gegen ihn wegen "anderer Verbrechen gegen die Sicherheit des Staates".
Politische Reformen für ein "neues Kasachstan"
Der seit 2019 amtierende Präsident Kassym-Schomart Tokajew hatte im Jänner Truppen des von Russland geführten OVKS-Bündnisses zu Hilfe gerufen. Er machte "Banditen" sowie "Terroristen" mit Verbindungen ins Ausland für die Zusammenstöße verantwortlich und erteilte einen Schießbefehl gegen militante Demonstranten. Beobachter vermuteten jedoch dahinter eher einen Machtkampf an der Spitze der Regierung. Nasarbajew hatte Tokajew zu seinem Nachfolger bestimmt, als er 2019 nach fast drei Jahrzehnten im Amt zurücktrat. Der inzwischen 81-Jährige behielt aber eine Reihe von Schlüsselpositionen für sich und seine Familienmitglieder. Die Folge? Im Hintergrund zog Nasarbajew so weiter die Fäden im Land. Seit Jänner konnte Tokajew allerdings seine Position als Machthaber stärken, Nasarbajew sowie seine Vertrauten und Angehörigen verloren nach und nach ihre Ämter.
Am 16. März kündigte Tokajew in einer Rede zur Nation politische Reformen für ein "neues Kasachstan" an, um das Land weiter zu transformieren und modernisieren. Konkret plant man das Parlament zu stärken, das Registrierungsverfahren für politische Parteien zu vereinfachen, das Wahlverfahren zu modernisieren und die Justiz- und Strafverfolgungssysteme zu verbessern. Und: Die Befugnisse des traditionell übermächtigen Präsidenten sollen eingeschränkt werden.
Bis Ende des Jahres sollen jene Ankündigungen umgesetzt werden. 30 Änderungen der Verfassung sind dafür notwendig, mehr als 20 Gesetze müssen verabschiedet werden. Unterdessen brauen sich am Himmel zu Russland dunkle Wolken zusammen - es drohen schwerste außenpolitische Spannungen mit dem bisher wichtigsten Partner. So oder so: Es sind richtungsweisende Zeiten für Kasachstan.
Simon Rothschedl