Eine Tafel, so lange, dass der handelsübliche Zollstab nicht ausreicht, um ihre Länge zu messen. Auf der einen Seite der russische Präsident Wladimir Putin, auf der anderen seine Gesprächspartner. Dazwischen: viel Abstand. So empfängt Putin nicht nur ausländische Staatsgäste wie den deutschen Kanzler Olaf Scholz, sondern auch seine eigenen Berater. Der Machthaber lässt im wörtlichen und im übertragenen Sinn nur wenige an sich heran. Ist der Abstand also als Indikator für die Beziehung Putins zu seinen Gesprächspartnern zu interpretieren? Nein, sagt Russlandexperte Gerhard Mangott von der Uni Innsbruck. Putin dürfte es tatsächlich um die Befürchtung gehen, sich mit dem Coronavirus zu infizieren: "Ich glaube nicht, dass es da um ein Signal geht."
Einem, den Putin an sich heranlässt, wird in der westlichen Diskussion bisher wenig Beachtung geschenkt: Juri Kowaltschuk ist einer der engsten Vertrauten und wohl sogar Freund des Präsidenten. Im Gegensatz zu vielen anderen Beratern schafft er es auch jetzt noch, einen Zugang zu Putin zu finden. Kowaltschuk ist Eigentümer der Bank Rossija, soll auch das Vermögen von Putin verwalten und war auch die einzige ständige Kontaktperson Putins in der Pandemie. Das Wichtigste dürfte aber die ideologische Einstellung sein. Kowaltschuk teilt die Ansicht Putins, dass die Ukraine nach Russland zurückgeholt werden müsse.
Am nächsten dürfte Putin Nikolaj Patruschew, stehen. Er ist Sekretär des Sicherheitsrats. Die beiden sind etwa gleich alt, stammen beide aus St. Petersburg und kennen sich, seit sie 1975 in den KGB eingetreten sind. Was den russischen Revisionismus betrifft, gilt Patruschew als noch radikaler als Putin selbst. Im Herbst letzten Jahres bezeichnete er Ukrainer als "Nicht-Menschen", er hat auch sonst eine verzerrte Wahrnehmung vom Westen und ist "beseelt vom tiefen Misstrauen gegenüber dem Westen und seinen Absichten, wie Putin selbst", so Mangott.
Ist ein "Njet" im vier-Augen-Gespräch denkbar?
Kowaltschuk und Patruschew bilden die erste Reihe im innersten Kreis Putins. Würden sie es wagen, ihrem Chef im Zwiegespräch zu widersprechen? Gerhard Mangott glaubt ja – auch wenn das schwer zu sagen sei. Zuvor stellt sich aber die Frage, ob die beiden das überhaupt wollen würden, denn eine große Interessendivergenz gibt es bei den dreien wohl kaum. Der enge Kommunikationsraum, den die beiden mit Putin bilden, könnte der Grund sein, dass die schwer nachvollziehbaren Entscheidungen der letzten Wochen so gefallen sind, wie sie gefallen sind.
Zwar auch im inneren Kreis, aber nicht in dessen erster Reihe stehen der Verteidigungsminister Sergej Schoigu und der Chef des Inlandsgeheimdienstes Alexander Bortnikow. Andere hochrangige Politiker spielen in der Entscheidungsfindung kaum eine Rolle. Ein gutes Beispiel dafür ist Außenminister Sergej Lawrow – auch wenn Putin sich auf ihn verlässt. Er gilt als hervorragender Diplomat und treuer Diener seines Herren. Aber Außenminister haben in Russland selten eigenständige Macht. Zwar nicht qua Verfassung, aber in der Praxis sind sie Erfüllungsgehilfen des Präsidenten.
Ein freundschaftliches Verhältnis pflegt Putin zum Chef der Nationalgarde, Wiktor Solotow, sein früherer Leibwächter, der nun für 400.000 Mann verantwortlich ist, gehört aber nicht zum inneren Zirkel des Machthabers.
Militärisch direkt verantwortlich für den Einmarsch in die Ukraine ist der Generalstabschef Walery Gerassimow. Sollte der Feldzug scheitern, wäre er der Erste, der seinen Job los ist. Er ist engstens einbezogen, was die Strategie betrifft, in der Grundsatzentscheidung über den Krieg spielt er aber keine Rolle.
Auf Frauen hört Putin bei grundsätzlichen Fragen nicht, auch wenn die Direktorin der Zentralbank Elvira Nabiullina bei den Themen Makroökonomie und Währungspolitik bis zuletzt großen Einfluss hatte. Für die Kriegsentscheidung ist sie aber völlig irrelevant, wie die Regierung, die mit der Entscheidung eher unglücklich war. Angefangen bei Ministerpräsidenten Michail Mischustin über seinen StellvertreterAndrej Beloussow bis zu Finanzminister Anton Siluanow. Sie alle haben keine politische Hausmacht und können laut Mangott nichts in die Waagschale werfen: "Entweder Putin akzeptiert ihren Rat oder er ignoriert ihn, in der Ukraine-Frage hat er das Letztere gemacht."
Einen kleinen Vorgeschmack, was passieren kann, wenn man sich nicht im Sinne Putins verhält, bekam der Direktor des Auslandsgeheimdienstes Sergej Naryschkin, der bei einer Sicherheitsrats-Sitzung ins Stottern geriet und versprach. Putin wies ihn nicht nur sofort zurecht, sondern machte ihn geradezu lächerlich. Seinen Posten konnte der Hardliner aber behalten. Die Aktion zeigte aber den Leuten im Sicherheits- und Militärestablishments Russlands, wo ihr Platz ist.