Auch Krieg wird zur Alltäglichkeit. "Wir gehen nachts auf Streife, um Saboteure aufzuspüren", berichtet der Krimtatare Erfan aus Kiew. Mehr als hundert haben sie schon gefangen. "Stell’ dir vor, wie viele es insgesamt sind!", sagt Erfan. Man höre Gewehrfeuer und Raketenabschüsse. "Aber bei uns im Viertel ist es ruhig." Und dann erzählt er auch noch vom stellvertretenden Finanzdirektor des russischen Konzerns Gazprom, der Selbstmord begangen hat. "Die Sanktionen werden noch mehr Wirkung zeigen", davon ist Erfan überzeugt.
Die Nerven im Kreml wirken inzwischen enorm gespannt. "Hohe Vertreter der Nato erlauben sich aggressive Äußerungen an die Adresse unseres Landes", mit dieser Begründung befahl Wladimir Putin gestern, die "Abschreckungskräfte", also auch die Atomkräfte, in Kampfbereitschaft zu versetzen. "Russland pokert noch höher", kommentiert der Militärexperte Alexander Golz. "Und das ist äußerst gefährlich."
Die Nervosität im Kreml könnte auch mit der nicht wirklich triumphalen militärischen Entwicklung in der Ukraine in Verbindung stehen. An der Donbass-Front gewinnen die Russen trotz ihrer Überlegenheit in der Luft und an Feuerkraft nur mühsam Boden, in der Schwarzmeer-Region Cherson belagern sie die Städte Cherson und Berdjansk.
Vor allem im Norden gibt es offenbar keine zusammenhängende ukrainische Abwehrfront, aus Weißrussland stoßen russische Kolonnen ins ukrainische Hinterland und bis nach Kiew vor. Russische Kampfwagen drangen ins halb eingekreiste Charkiw ein, konnten sich aber dort ebenso wenig festsetzen wie vorher russische Stoßtruppen in Kiew. Außer den regulären ukrainischen Soldaten stellen sich ihnen auch Freiwillige der Territorialverteidigung und Zivilisten entgegen.
Gehörig verrechnet
Allein in Kiew wurden 37.000 Sturmgewehre an die Freiwilligen verteilt. Und der Telegramkanal Ostannij Blockpost zeigte am Wochenende, wie zwei russische Schützenpanzer eine Straßenbarrikade in Kiew rammen und die Verteidiger sie mit einem Hagel Molotowcocktails in lodernde Flammen verwandeln. "Wir erleben einen riesigen Maidan", sagt Erfan mit Hinweis auf die Straßenkämpfe bei der Revolution von 2014. Die ukrainischen Internetportale sind voller Videos mit zerstörten russischen Fahrzeugkolonnen, abstürzenden russischen Kampfhubschraubern, kleinlauten russischen Gefangenen.
Sie sind aber auch voll mit wütenden Dialogen zwischen russischsprachigen Ukrainern und russischen Soldaten: "Ihr seid Besatzer, ihr seid Feinde, ihr seid seit dieser Sekunde verflucht", verkündet eine Frau im Schwarzmeer-Städtchen Henintschesk einem Kommandeur: "Hier, nehmt Sonnenblumenkerne, frische, damit wenigstens Sonnenblumen wachsen, wo ihr sterbt!" Unter den russischen Gefangenen sind inzwischen auch Mitglieder der Rosgwardija, eigentlich Polizeitruppen für den inneren Gebrauch.
Was vermuten lässt, dass es den russischen Invasoren an einsatzfähigen Armee-Einheiten mangelt. Bereits vor dem Angriff bezweifelten Militärexperten, dass die 130.000 bis 190.000 Mann, die Russland gegen die Ukraine in Stellung gebracht hatte, für eine flächendeckende Besetzung des Landes ausreichten. Auch die binnen weniger Tage erwartete Einkesselung der ukrainischen Truppen im Donbass kam bisher nicht zustande. Der russische Feldzugplan ist durcheinandergeraten.
Erst wollte man die Flughäfen, Nachschublager und Kommandostellen der Ukraine mit punktgenauen Raketen- und Luftschlägen ausschalten und auch mit Cyberattacken, dann Kiew im Handstreich nehmen, danach die desorientierten und demoralisierten Feindtruppen einkreisen und gefangennehmen.
Aber das Moskauer Oberkommando scheint sich ähnlich wie der weißrussische Staatschef Alexander Lukaschenko gehörig verrechnet zu haben, der Anfang Februar angesichts der mit Sperrholzgewehren trainierenden Ukrainer verkündete, dieser Krieg werde allerhöchstens vier Tage dauern.
"Es wird kaum einer der Generäle Panzer und Motorschützen in den Kampf werfen, bevor die Batterien und Schussstellungen des Gegners nicht ausgeschaltet sind", sagte der Moskauer Militärexperte Viktor Litowkin zu Kriegsbeginn der Regierungszeitung Rossijskaja Gaseta. Jetzt sind Moskaus Bodentruppen vielerorts in verlustreiche Kämpfe mit einem offenbar sehr gut orientierten Feind verwickelt.
Nur ein neues Psychospielchen?
Viele Ukrainer befürchten inzwischen auch, dass die Russen ihre Taktik noch deutlich ändern werden. Und dass sie ihre Städte nach den gescheiterten Handstreichen mit einem massiven Raketenbeschuss und mit Bombardements bekriegen werden. Schon behauptet das russische Verteidigungsministerium, die Ukrainer stellten ihre Geschütze absichtlich in Wohnvierteln auf.
Und doch gibt es auch Hoffnung auf eine Verhandlungslösung. Gestern traf eine russische Delegation im weißrussischen Gomel ein. Am Nachmittag bestätigte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, dass auch Unterhändler seiner Seite unterwegs sind, die Gespräche sollen am ukrainisch-weißrussischen Grenzfluss Pripjat stattfinden.
Aber in Kiew befürchten viele nur ein neues Psychospielchen. Laut Selenskyjs Pressesprecher hatten die Russen vor der geplanten Unterredung verlangt, die ukrainische Armee sollte ihre Waffen niederlegen. Die Ukrainer hatten aber auf Gespräche ohne alle Vorbedingungen bestanden.