Beim Treffen mit dem deutschen Kanzler Olaf Scholz in dieser Woche im Kreml ließ Russlands Präsident Wladimir Putin aufhorchen: „Was im Donbass passiert, das ist ein Genozid.“ Russland wirft der Ukraine einen Völkermord im Osten des Landes vor. Die Frage ist extrem wichtig. Denn ein Genozid gilt als legitimer Grund für ein militärisches Eingreifen. In der einschlägigen UN-Konvention ist Völkermord definiert als Versuch, eine „nationale, ethnische oder religiöse Gruppe zu zerstören.“
Im Donbass geht es nach Moskauer Lesart um Russen oder russischsprachige Menschen, die nach Autonomie streben. Die ukrainische Regierung unterdrücke diese Gruppe und drohe mit Vernichtung. Der Beginn des Krieges in den Regionen Donezk und Luhansk 2014 war aus Kreml-Sicht eine Folge legitimen Widerstands gegen ein „faschistisches Regime“ in Kiew. Einem Faktencheck hält das nicht stand.
Keine Autonomiebewegung
Eine breite Autonomiebewegung gab es 2014 nicht. Vielmehr nutzten separatistische Gruppen die Schwäche der Kiewer Übergangsregierung zu einer Machtübernahme. Die Führungsfiguren waren meist Russen mit Verbindungen zum Militärgeheimdienst GRU. Sie inszenierten ein Referendum und schufen die „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk, die weltweit keine Anerkennung fanden. Die ukrainische Armee begann Ende Mai 2014 eine „Anti-Terror-Operation“. Die Offensive mündete in den Donbass-Krieg. Die Separatisten konnten mit russischer Militärhilfe ihre Gebiete halten. Das Abkommen von Minsk vom Februar 2015 schuf eine „Kontaktlinie“, die in Wirklichkeit eine Front ist. Denn die vielfach erneuerte Waffenruhe wird von beiden Seiten gebrochen.
De facto herrscht in der Region bis heute ein Krieg mit 14.000 Toten. Diese Geschichte muss man grob kennen, um die Frage nach Völkermord zu beantworten. Denn es ist unklar: Wie soll die ukrainische Armee einen Völkermord in den Gebieten Donezk und Luhansk verüben, in denen seit acht Jahren kremltreue Separatisten die Kontrolle ausüben? Für einen Völkermord fehlen schlicht die Möglichkeiten. Sowohl OSZE als auch UN haben keinerlei Hinweise für einen Genozid.
unserem Korrepondenten Ulrich Krökel