Wolodymir Selenskyj und Emmanuel Macron schüttelten sich vor dem Marienpalast in Kiew die Hände, beide Präsidenten trugen Masken. Omikron aber lauert auch in Moskau, am Vorabend saßen der französische Präsident und Gastgeber Wladimir Putin zur Empfangszeremonie im Kreml an den Enden eines wohl acht Meter langen Tisches, ohne Masken.

Europas Spitzenpolitiker pendeln zwischen den verfeindeten Hauptstädten. Während Macron begann, die außenpolitische Lücke, die Angela Merkel hinterließ, mit eigenen Initiativen in der Ukraine-Krise zu füllen, scheint der neue deutsche Kanzler erst allmählich einzusteigen. Nach Macron wird Olaf Scholz nun am Montag in Kiew, am Dienstag in Moskau erwartet; seine Außenministerin Annalena Baerbock, die bereits vorige Woche in Moskau war, besuchte gestern das Frontgebiet im Donbass. Die seit Monaten eskalierende russisch-westliche Krise mit ihren Truppenkonzentrationen und Verhandlungsultimaten pendelt sich ein: Moskau gegen Kiew. Und Kiew, so scheint es zusehends, gegen den Rest der Welt.



Am Montag war in der ukrainischen Hauptstadt ein Treffen Selenskyjs mit Annalena Baerbock geplatzt. Selenskyj soll verärgert gewesen sein, weil Baerbock weiterhin nicht ausdrücklich versichern wollte, Deutschland werde bei einer russischen Invasion Nord Stream 2 still legen. Am Vortag hatte Olaf Scholz es bei seinem Treffen mit US-Präsident Biden in Washington geschafft, das Wort Nord Stream kein einziges Mal in den Mund zu nehmen.

Stimmung gedrückt

Aber nicht nur die deutsche Schlaffheit drückt in Kiew auf die Stimmung. Nach Baerbock redete gestern auch Macron sehr viel über „Minsk 2“, das umstrittene und bisher glatt gescheiterte Donbass-Friedensabkommen von 2015, dessen Umsetzung beide Seiten vermieden.

Selenskyj habe seine Bereitschaft bestätigt, weiter an der Erfüllung der Minsker Vereinbarungen zu arbeiten, sagte Emmanuel Macron nun gestern bei der gemeinsamen Pressekonferenz. US-Außenminister Antony Blinken hatte schon am Vortag erklärt, Minsk 2 sei der einzige Weg zum Frieden in der Ostukraine. „Selenskyjs Absicht, Minsk abzulehnen oder das Minsker Protokoll wesentlich zu ändern, wird bei den Partnern der Ukraine keine Zustimmung finden“, sagt der Kiewer Politologe Wadim Karasjow der Kleinen Zeitung.

Russischer Truppenaufmarsch

Moskau, das nach Ansicht vieler Ukrainer ihr Land mit Hilfe des Minsk-Abkommens wieder unter Kontrolle bringen will, bekommt jetzt verbale Unterstützung aus Berlin, Paris und Washington. Und Karasjow glaubt wie andere Kiewer Beobachter, der Aufmarsch von etwa 130.000 russischen Soldaten, aber auch die Forderungen Moskaus an die Nato, sich militärisch aus Osteuropa zurückzuziehen, hätten vor allem dem Zweck gedient, die Ukraine wieder in die Minsker Spur zu zwingen. „Putin versteht“, sagt Karasjow, „dass man die Ukraine nur dann zur Realisierung der Minsker Vereinbarungen nötigen kann, wenn man die Rahmenbedingungen der internationalen Politik ändert.“ Deshalb mache er Druck, und das mit Erfolg.

Am Montag duzte Putin Macron, der Nato aber stellte er einen Atomkrieg in Aussicht, falls die Ukraine eines Tages als neues Bündnismitglied versuchen sollte, die von Russland 2014 vereinnahmte Krim-Halbinsel zurückzuerobern. Von Kiew selbst verlangte er sehr deftig, den Minsker Ausführungsbestimmungen Folge zu leisten: „Ob es dir gefällt oder nicht, halt still, meine Schöne!“ Mehrere ukrainische Portale verwiesen auf den fast wortgleichen Text eines alten russischen Gassenliedes, in dem eine Frauenleiche geschändet wird.

Der frühere TV-Komiker Selenskyj kommentierte gestern grinsend, die Ukraine sei wirklich eine Schönheit, aber sie gehöre keineswegs Putin. Ansonsten hätten die Ukrainer viel Geduld: „Unsere Geduld beeinflusst die Provokation, indem wir nicht auf sie reagieren.“

In der ukrainischen Öffentlichkeit gelten die Minsker Vereinbarungen als toxisch. „Die Erfüllung von ‚Minsk‘ bedeutet den langsamen und qualvollen Tod unseres Landes“, schreibt die Internetzeitung ZN.UA. Nach einer Umfrage der Gruppe Rejting vom Dezember sind nur 12 Prozent der Ukrainer für die vollständige Realisierung des Abkommens, das einen Sonderstatus und nach russischer Lesart ein Vetorecht für die prorussischen Rebellen im ukrainischen Staatsverband beinhaltet.

Macron versprach gestern, man werde in den nächsten Wochen Klarstellungen erarbeiten, die die abweichenden Lesarten des Minsker Vertrages beseitigen. Macrons Tête-à-Tête mit Selenskyj dauerte zwei Stunden, mit Putin hatte er über fünf Stunden geredet. Mit Putin will Macron nach seinem Kiew-Besuch wieder telefonieren.