Kremlchef Wladimir Putin hat dem Westen vorgeworfen, Russlands Sicherheitsinteressen zu ignorieren. Der russische Präsident beklagte am Dienstag nach einem Treffen mit dem ungarischen Regierungschef Viktor Orbán im Kreml, dass der Westen keine Rücksicht nehme auf das Prinzip der "Unteilbarkeit der Sicherheit" in Europa. Putin mahnte erneut, dass ein Land seine eigene Sicherheit nicht auf Kosten der Interessen eines anderen Landes durchsetzen könne.

Putin äußerte sich am Dienstag zum ersten Mal in der aktuellen Eskalation der Ukraine-Krise zu den Spannungen zwischen Russland und dem Westen. Er kritisierte, dass Russlands Forderung nach einem Ende der Nato-Osterweiterung abgelehnt worden sei.

Dabei sei die Ukraine "nur ein Instrument, um dieses Ziel zu erreichen", erklärte Putin in Moskau. Dies könne auf verschiedene Weise angestrebt werden, auch indem Russland in einen bewaffneten Konflikt verwickelt werde. "Ich hoffe, dass wir am Ende eine Lösung finden werden", sagte der Präsident mit Blick auf den Ukraine-Konflikt. Er warf den USA und der NATO jedoch vor, die Sicherheitsbedenken Russlands zu ignorieren.

Nato-Positionen von 1997

Russland will verhindern, dass die Ukraine Nato-Mitglied wird. Putin hatte auch gefordert, dass sich die Nato auf ihre Positionen von 1997 zurückziehen und auf die Stationierung von Raketensystem in der Nähe von Russlands Grenzen verzichten soll.

Angesichts eines massiven russischen Truppenaufmarschs in der Nähe der Ukraine wird im Westen befürchtet, dass der Kreml einen Einmarsch planen könnte. Moskau bestreitet das. Für möglich gehalten wird auch, dass Ängste geschürt werden sollen, um die Nato-Staaten zu Zugeständnissen bei neuen Sicherheitsgarantien zu bewegen.

"Mein Besuch hat einen friedensstiftenden Zweck", sagte Orbán nach dem fast fünfstündigen Treffen. Er warnte vor einem neuen Kalten Krieg. "In dieser Situation ist Dialog notwendig." Er begrüße deshalb Gespräche zwischen Russland und den westlichen Verbündeten.

"Sicherheitsgarantien"

Die USA und die NATO hatten vergangene Woche schriftlich auf russische Forderungen nach "Sicherheitsgarantien" geantwortet. Eine von Putin geforderte Verzichtserklärung der NATO auf eine weitere Osterweiterung sowie den Abzug von US-Waffen aus Staaten der früheren sowjetischen Einfluss-Sphäre lehnten Washington und die NATO in den Briefen ab.

"Wir analysieren die schriftlichen Antworten der Vereinigten Staaten und der NATO sorgfältig", sagte Putin. "Aber es ist bereits klar, dass grundlegende russische Bedenken letztendlich ignoriert wurden." Die USA und die Nato verwiesen auf "das Recht von Staaten, frei zu entscheiden, wie sie ihre Sicherheit gewährleisten wollen", sagte der russische Staatschef. Dabei ignorierten sie jedoch, "dass es unmöglich ist, die Stärkung der eigenen Sicherheit auf Kosten der Sicherheit anderer zuzulassen".

Ähnlich äußerte sich der russische Außenminister Sergej Lawrow laut einem Bericht der "Süddeutschen Zeitung" in einem Brief an westliche Staaten. Er warf ihnen demnach vor, ihre Sicherheit auf Kosten Russlands zu verstärken, was gegen bestehende internationale Verträge und das Prinzip der Unteilbarkeit von Sicherheit verstoße.

Blinken ruft zu Truppenabzug auf

Lawrow beriet am Dienstag in einem Telefonat erneut mit seinem US-Kollegen Antony Blinken über die Ukraine-Krise. Blinken habe dabei auf eine "sofortige russische Deeskalation und den Rückzug von Soldaten und Ausrüstung von den Grenzen zur Ukraine" gepocht, erklärte US-Außenamtssprecher Ned Price im Anschluss.

Ein russischer Einmarsch im Nachbarland hätte "rasche und ernsthafte Konsequenzen", warnte Blinken demnach. Ein Vertreter des US-Außenministeriums, der anonym bleiben wollte, erklärte, im Gespräch mit Lawrow habe es keinerlei Anzeichen dafür gegeben, dass Russland zu einer Deeskalation der Lage bereit sei.

Lawrow wiederum warf dem Westen nach dem Gespräch vor, "seine Verpflichtungen nicht oder nur selektiv zu seinen Gunsten" zu erfüllen. Die beiden Außenminister hatten sich Ende Jänner bereits persönlich in Genf getroffen - einen Durchbruch brachte die Begegnung aber nicht.

Der ungarische Regierungschef Orban, einer der wenigen Verbündeten Putins in den Reihen der NATO und der EU, bezeichnete die Differenzen zwischen westlichen Staaten und Russland in dem Konflikt als "überbrückbar". Die Krisendiplomatie im Ukraine-Konflikt läuft bereits seit Wochen. In einem Telefonat mit Putin mahnte am Dienstag Italiens Ministerpräsident Mario Draghi "Deeskalation" an, wie sein Büro mitteilte.

Der britische Premierminister Boris Johnson versprach der Ukraine bei einem Besuch in Kiew Unterstützung. Zudem warnte er Moskau mit Nachdruck vor einem Angriff auf das Nachbarland. Die ukrainische Armee werde "heftigen und blutigen Widerstand" leisten, erklärte Johnson bei einer Pressekonferenz mit dem ukrainischen Staatschef Wolodymyr Selenskyj. Diese Nachricht müsse der russischen Öffentlichkeit und den "russischen Müttern" klar sein, so Johnson. Er hoffe sehr, dass Putin sein Militär von der ukrainischen Grenze abziehe und auf Diplomatie setze.

"Das wird ein großflächiger Krieg in Europa"

Selenskyj pflichtete dem Premier bei. "Die Ukrainer werden sich bis zum Letzten verteidigen", meinte der Präsident. Die Russen müssten begreifen, dass ein Krieg in einer Tragödie enden würde. Das Land, die Menschen und die Armee hätten sich geändert. "Jetzt wird es keine einfache Besetzung irgendeiner Stadt oder eines Landstrichs mehr geben", betonte der 44-Jährige. "Daher sage ich offen, das wird kein Krieg zwischen der Ukraine und Russland. Das wird ein großflächiger Krieg in Europa."

Johnson sagte, eine russische Invasion würde eine politische, humanitäre und militärische Katastrophe bedeuten. Er drohte, Großbritannien und seine Alliierten hätten harte Sanktionen gegen Russland vorbereitet. Diese träten in Kraft, sobald "die erste russische Schuhspitze" ukrainisches Territorium betrete und würden einen Automatismus auslösen.

Großbritannien hat der Ukraine zuletzt Panzerabwehrwaffen geliefert. Außerdem bildet die britische Armee ukrainische Soldaten aus. Einen Kampfeinsatz britischer Truppen hatte Außenministerin Liz Truss kürzlich aber äußerst unwahrscheinlich genannt.