Der Druck auf den britischen Premierminister Boris Johnson wegen Regierungs-Partys während des Corona-Lockdowns nimmt weiter zu. Ein hochrangiger Abgeordneter von Johnsons konservativen Tories warf der Regierung am Donnerstag vor, Parlamentarier aus den eigenen Reihen unter Druck zu setzen, um ein parteiinternes Misstrauensvotum zu verhindern. Ein Sprecher von Johnsons Büro erklärte, man habe keine Hinweise, die solche Vorwürfe belegten.
In den vergangenen Tagen seien mehrere Abgeordnete von Regierungsmitgliedern eingeschüchtert worden, weil diese erklärtermaßen oder mutmaßlich eine Abstimmung über die Parteiführung des Premierministers anstrebten, sagte der Vorsitzende des Ausschusses für öffentliche Verwaltung und Verfassungsfragen, William Wragg. Nach seiner Ansicht handle es sich dabei sogar teils um Erpressung. Denn es werde gedroht, Investitionen aus den Wahlkreisen der Abgeordneten zurückzuziehen, die aus öffentlichen Mitteln finanziert würden. Er rate, diese Vorfälle dem Unterhaus und der Metropolitan Police zu melden. Der Ausschussvorsitzende zählt zu Johnsons Kritikern.
Auch Parlamentspräsident Lindsay Hoyle zeigte sich beunruhigt. Wer versuche, Abgeordnete durch Drohungen an der Ausübung ihrer Tätigkeit zu hindern, mache sich der Missachtung des Parlaments schuldig, so Hoyle. Johnson versprach, die Vorwürfe zu prüfen, betonte jedoch, er habe dafür bisher keine Beweise gesehen.
Johnson angezählt
Der Premier gilt wegen der unaufhörlichen Enthüllungen über Lockdown-Partys im Regierungssitz Downing Street als angezählt. Am Mittwoch hatte er sich bei der Fragestunde im Parlament kämpferisch gezeigt und damit offenbar etwas Zeit gekauft.
Der als "Pork Pie Plot" (etwa: Schweinepasteten-Komplott) bezeichnete Versuch einer Gruppe von Tory-Abgeordneten, ein Misstrauensvotum gegen ihn einzuleiten, scheiterte vorerst. Bisher wurde die Hürde von 54 Befürwortern nicht erreicht. Sogar der Aufsehen erregende Übertritt eines Abgeordneten zur Labour-Opposition scheint die Rebellion eher etwas geschwächt als gestärkt zu haben. Zudem dürfte Johnson die angekündigte Aufhebung aller Corona-Maßnahmen zumindest in bestimmten Kreisen wieder etwas Rückhalt verschafft haben.
"In Gottes Namen, gehen Sie!"
Doch der Premier musste auch Federn lassen: "In Gottes Namen, gehen Sie!" hatte ihm der frühere Brexit-Minister und Tory-Veteran David Davis bei der Parlamentssitzung entgegengeschmettert. Die aufsehenerregende Rücktrittsforderung habe Johnson "beschädigt", räumte Gesundheitsminister Sajid Javid am Donnerstag im Sender Sky News ein. Er warb darum, das Ergebnis der internen Untersuchung zur "Partygate"-Affäre abzuwarten, das für kommende Woche erwartet wird.
Javid räumte ein, dass Johnson zurücktreten müsse, falls der Bericht der ranghohen Beamtin Sue Gray ihm Fehler nachweist. Die Vorschriften seien klar. "Falls ein Kabinettsmitglied, beginnend beim Premier, das Gesetz bricht, sollte es natürlich nicht weiter im Kabinett dienen", sagte Javid. "Es gibt keine Ausnahme von dieser Regel." Johnson selbst wich Fragen nach Konsequenzen zu dem Bericht bei einem Interview am Donnerstag aus. Doch die geplante Veröffentlichung der Ergebnisse aus der internen Untersuchung scheint immer mehr zur Stunde der Wahrheit für den Premier zu werden. Schon jetzt gibt es Berichte, die Zweifel daran aufkommen lassen, ob Johnson tatsächlich wie angegeben im Vorfeld nichts über Lockdown-Partys im Regierungssitz wusste.
Zustimmung eingebrochen
Die jüngsten Enthüllungen haben die Zustimmungswerte für Johnson, der seit Wochen wegen diverser Skandale angeschlagen ist, und auch für seine Partei einbrechen lassen. Laut einer neuen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos halten 57 Prozent der Briten Johnson für einen schlechten Premierminister. Das sind sechs Prozentpunkte mehr als in der Vorwoche.
Der ehemalige Labour-Premier Tony Blair stellte dem aktuellen Regierungschef am Donnerstag ein verheerendes Zeugnis aus. Wo neue Ideen sein sollten, gebe es eine "gähnende Leere" in der Regierungsführung, sagte Blair bei einer Rede in London. Die konservative Regierung Johnsons habe für keines der großen aktuellen Themen einen strategischen Plan. Dazu zählte Blair den EU-Austritt, den technologischen Fortschritt und den Wandel zur Klimaneutralität. "Ohne einen radikalen Wandel in der Politik sehen wir einem stetigen, unaufhaltsamen, sich verschärfenden Niedergang entgegen wie in den 1960er und 1970er-Jahren." Großbritannien werde ärmer, weniger erfolgreich und weniger mächtig sein, sagte der 68-Jährige.