Der frühere OSZE-Generalsekretär Lamberto Zannier schließt eine militärische Reaktion der NATO auf einen russischen Angriff auf die Ukraine nicht aus. „Derzeit sind wir noch im Konfliktvermeidungsmodus“, sagte Zannier im APA-Interview auf die Frage, warum das westliche Bündnis bisher nur von Sanktionen spricht. „Wenn sich die Situation verschlechtert, kann alles passieren“, mahnte der italienische Diplomat.
Zannier wies darauf hin, dass sich die Beistandsverpflichtung nach Artikel 5 des Nordatlantikpakts nur auf NATO-Mitgliedsstaaten beziehe. Daher könne man nicht erwarten, dass das Bündnis eine entsprechende Aussage mit Blick auf das Nicht-Mitglied Ukraine abgebe. „In Abhängigkeit von der Entwicklung am Boden“ könnte die NATO aber ihre Einschätzung verändern, so Zannier, der diesbezüglich auf die Einsätze des Bündnisses in den 1990er-Jahren in Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo verwies.
Lage derzeit schwierig
Der frühere UNO-Diplomat stand während der Ukraine-Krise im Jahr 2014 an der Spitze der europäischen Sicherheitsorganisation. Die OSZE spielte damals eine wesentliche Rolle dabei, mit einer Beobachtungsmission (SMM) die Feindseligkeiten zwischen der Regierung in Kiew und pro-russischen Separatisten im Osten des Landes einzudämmen. Zannier zeigte sich im APA-Interview frustriert, dass die OSZE-Staaten nicht stärker auf die Organisation setzen, um den Konflikt zu lösen.
Zannier erinnerte daran, dass die OSZE-Vorgängerin KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) im Kalten Krieg „genau für solche Situation geschaffen worden war“. Seit Jahren befinde sich die Organisation aber in einer „negativen Dynamik“ und könne sich nicht auf gemeinsame Entscheidungen einigen. Ihren Ausgang habe diese Entwicklung genommen, als Russland seine vermeintlichen Sicherheitsinteressen im Zuge der NATO-Erweiterung in den 1990er-Jahren nicht ausreichend berücksichtigt gesehen habe. Die Lage sei deshalb so ernst, weil sich eine Reihe von Problemen „aufgestaut“ habe und Russland sich „direkt in seiner Sicherheit betroffen“ sieht. Provoziert hätten Moskau etwa jüngste westliche Unterstützungsmaßnahmen im Verteidigungsbereich für die Ukraine. „Wir sehen, dass die Spannung außerordentlich hoch ist“, so Zannier. „Einzelne Zwischenfälle können einen Krieg auslösen, selbst wenn das nicht beabsichtigt ist. Schon mit einem Funken kann alles beginnen“, mahnte der frühere OSZE-Spitzendiplomat.
Besserung durch Neutralitätserklärung?
In der jetzigen Situation sei es nicht gerade einfach, über die russischen Sicherheitsinteressen zu sprechen, räumte Zannier ein. Auf die Frage, ob der Konflikt etwa durch eine Neutralitätserklärung der Ukraine gelöst werden könnte, meine er, dass diese Entscheidung der Ukraine obliege. Doch habe sich die Ukraine „schon einmal die Finger verbrannt, als sie auf Atomwaffen verzichteten für Garantien Russlands bezüglich ihrer territorialen Unversehrtheit“, verwies der Diplomat auf das Budapester Memorandum aus dem Jahr 1994, das dann im Krim-Konflikt „von Russland nicht respektiert“ worden sei. Der derzeit als Berater der OSZE-Parlamentarierversammlung tätige Diplomat zeigte sich „unglücklich“ über die Lage der OSZE, die „nur von Kontroversen und Missbrauch“ geprägt sei. Dabei brauche es neben Organisationen ähnlich gesinnter Staaten wie EU oder NATO auch Foren, in denen Staaten mit unterschiedlichen Ansichten zusammenkommen, betonte Zannier.
Neben Gesprächen auf Gipfelebene zwischen den Regierungen der USA und Russlands wünscht sich Zannier auch eine aktivere Rolle der europäischen Staaten bei der Lösung des NATO-Russland-Konflikts. „Die Europäer sind die engsten Nachbarn Russlands, und sie sind auch die ersten, die (im Fall von Konflikten) leiden“, warnte er. Zannier beklagte, dass es innerhalb der EU unterschiedliche Ansichten bezüglich des Umgangs mit Russlands gebe, „aber ich hoffe immer noch, dass sie sich zusammenreißen“.