Es waren Szenen, wie sie die USA noch nie erlebt haben: Inmitten der Kongresssitzung, mit welcher der Wahlsieg des künftigen Präsidenten Joe Biden endgültig bestätigt werden sollte, stürmten Anhänger des scheidenden Amtsinhabers Donald Trump das Kapitol der Vereinigten Staaten in der Hauptstadt Washington. Fünf Menschen starben bei oder am Rande der Gewalt. Am 6. Jänner jährt sich der Vorfall zum ersten Mal.
Stellvertretend für dieses dunkle Kapitel der amerikanischen Geschichte steht Jacob Chansley, besser bekannt unter seinem Pseudonym Jake Angeli. Denkt man den „Sturm auf das Kapitol“, hat man sofort sein Bild im Kopf: Er trägt Büffelhörner als Symbol der Stärke und die Schweife zweier Kojoten, um seine Finesse zu unterstreichen. Während das Gesicht rot-weiß-blau geschminkt ist, bleibt der Oberkörper frei. Auf der Brust hat „der Schamane“ drei ineinander verschlungene Dreiecke tätowiert – der Wotansknoten, ein altes germanisches Symbol, das immer wieder mit Neonazis in Verbindung gebracht wird.
Ein Jahr nach Stürmung des Kapitols
Kinderblut als Verjüngungskur
Der frühere Matrose der Kriegsmarine gilt als der Anführer des radikalen Mobs, der zwei Monate nach der Wahl um die amerikanische Präsidentschaft das Kongressgebäude angriff. Warum? Aus Überzeugung. Der Mann aus Arizona ist passionierter Unterstützer der QAnon-Bewegung. QAnon-Anhänger glauben, dass ein von satanischen Menschenhändlern geführter Staat im Staate, der sogenannte „Deep State“, Kinder entführe, foltere und ermorde, um aus deren Blut eine Verjüngungsdroge herzustellen. Und weil Donald Trump der Einzige sei, der es wage, dieser globalen geheimen Elite die Stirn zu bieten, hinterließ er in Washington gemeinsam mit anderen Trump-Anhängern eine Spur der Verwüstung.
Die Konsequenz? Vor zwei Monaten wurde Chansley verurteilt. Und er kam mit einer relativ milden Haftstrafe davon. Für 41 Monate, das entspricht drei Jahre und fünf Monate, muss der 34-Jährige ins Gefängnis. Theoretisch hätte Chansley auch 20 Jahre Haft ausfassen können.
Schon ein bisschen härter traf es hingegen Robert Scott Palmer, der am Angriff ebenfalls teilnahm. Er wurde zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt – und das, obwohl es Palmer nicht einmal in das Innere des Gebäudes schaffte. Pfefferspray und Gummigeschosse stoppten den 54-Jährigen, der im Gefecht Polizisten mit Brettern, Feuerlöschern und anderen Gegenständen bewarf.
Nachdem er sein Handeln zunächst noch verteidigte (er bezeichnete die Polizei, auf einer von ihm eingerichteten Spenden-Website, als Angreifer), kam später die handschriftliche Entschuldigung – gemeinsam mit einem Antrag auf mildernde Umstände: Der „tyrannische“ Trump habe ihn und andere durch Lügen zum Angriff auf das Parlament verleitet. Unter Tränen sagte er, heute würde er sich für sein Handeln schämen. Doch trotz seines emotionalen Ausbruches kassierte er das bis dato härteste Urteil im Zusammenhang mit dem 6. Jänner.
Richard „Bigo“ Barnett wurde als jener Mann bekannt, der in Nancy Pelosis Büro gemütlich die Füße auf den Tisch legte, während auf den Gängen des Kapitols das absolute Chaos herrschte. Der Mann aus Arkansas ist bekennender „weißer Nationalist“, der fest daran glaubt, dass die Präsidentschaftswahl manipuliert wurde. Heute bittet der 60-Jährige auf einer Fundraising-Seite um finanzielle Unterstützung für das juristische Nachspiel. „Richard Barnetts Bild auf dem Schreibtisch von Sprecherin Pelosi ist zum Gesicht der neuen antiföderalistischen Bewegung geworden“, heißt es auf der Website. „Klicken Sie unten, um für den Kampf zu spenden.“
Dass beim Sturm auf das Kapitol Protagonisten mitwirkten, die nicht dadurch, sondern schon davor bekannt waren, zeigt das Beispiel von Metal-Musiker Jon Schaffer. Der Gitarrist der Band Iced Earth wurde in sechs Punkten angeklagt, mit einem maximalen Strafausmaß von 30 Jahren. Durch einen Deal zwischen der Staatsanwaltschaft und seinem Anwalt konnte dieses Strafmaß auf unter fünf Jahre reduziert werden.Bei Anerkennen der Schuld empfiehlt die Staatsanwaltschaft demnach eine Freiheitsstrafe von 3,5 bis 4,5 Jahren. Am 17. April 2021 plädierte Schaffer bei einer Anhörung vor Gericht auf „schuldig“.
Dass die juristische Aufarbeitung des „Sturm auf das Kapitol“ noch lange nicht abgeschlossen ist, unterstreichen folgende Zahlen: Ende Dezember waren erst 65 von über 700 Angeklagten verurteilt. Das FBI erhielt mehr als 250.000 Hinweise im Zusammenhang mit dem Vorfall, darunter etwa Familienmitglieder, die Verwandte meldeten, oder Facebook-Freunde, die ehemalige Schulkollegen anzeigten. Aber es geht noch kurioser. Robert Chapman aus New York prahlte auf einer Dating-App damit, das Kapitol gestürmt zu haben. „Wir passen nicht zusammen“, antwortete seine Chat-Partnerin und schickte einen Screenshot des Nachrichtenverlaufs an die Behörde.
Simon Rothschedl