Vor ein paar Wochen, als die Hoffnung auf eine echte und pünktliche Präsidentenwahl in Libyen schon zu verblassen begann, veröffentlichte die Zeitung "Al-Wasat" eine Karikatur mit einem Magier. Ein Mann mit Zauberstab und schwarzem Gewand beschwört darin unter Blitzen eine Wahlurne herauf, darauf das Logo von Libyens Wahlkommission. Unmittelbar vor dem eigentlich geplanten Wahltermin an diesem Freitag steht nun fest: Nur durch ein Wunder wäre der Termin zu retten gewesen.
Eigentlich sollte Freitag der Tag werden, an dem im nordafrikanischen Wüstenstaat ein neues politisches Kapitel beginnt. 2,8 Millionen der rund 7 Millionen Einwohner hatten sich als Wähler registriert, knapp 100 Bewerber Unterlagen für eine Kandidatur eingereicht. Erstmals sollten Präsidentschaftsdebatten stattfinden, geplant unter dem Titel "Libyen entscheidet". Im jahrelangen Bürgerkrieg sollte die Wahl am 24. Dezember, symbolträchtig gesetzt auf das Datum der Unabhängigkeit von 1951, eine Art Anfang vom Ende markieren.
Aber dann taumelte Libyen doch wieder abwärts. Die politischen Lager und ihre Anhänger trugen ihre Konflikte in dem faktisch zweigeteilten Land vorerst nicht mehr mit Waffen aus, dafür aber auf dem Rücken eines erhofften demokratischen Prozesses. Der Kampf drehte sich nun um den Ablauf der Wahl, um rechtliche Grundlagen, um Kandidaten. Namen wie die von General Khalifa Haftar, Saif al-Islam al-Gaddafi und auch Ministerpräsident Abdul Hamid Dbaibah zogen Klagen nach sich, auf eine Liste zugelassener Kandidaten warten die Libyer immer noch. Ein Wahlkampf fand gar nicht erst statt.
Die drei genannten Kandidaten haben viele Unterstützer hinter sich, aber sie polarisieren das Land. General Haftar hatte mit seinen Truppen versucht, Tripolis gewaltsam einzunehmen. Gaddafi, Sohn von Ex-Langzeitherrscher Muammar al-Gaddafi, wird vorgeworfen, die brutale Niederschlagung von Protesten gegen seinen Vater unterstützt zu haben. Dbaibah hatte entgegen Auflagen sein Amt nicht drei Monate vor der Wahl niedergelegt.
Diejenigen an der Macht sähen diese Wahl als Chance, sich "selbst zu erneuern oder aufzusteigen", schreibt Experte Tarek Megerisi vom European Council on Foreign Relations. Sollte der Wahlprozess aber scheitern, sei ihnen wichtiger, ihre eigene Position zu retten. Dazu gehört der Parlamentsvorsitzende Agila Saleh, der im September ein Wahlgesetz verabschiedete, ohne es im Parlament zur Abstimmung zu bringen. Saleh habe darauf gesetzt, dass sein umstrittener Schritt die Wahl von vornherein unglaubhaft und ein Ergebnis unmöglich machen würde - mit der Folge, dass er seinen wichtigen Posten behalten kann.
Mit Blick auf die Sicherheitslage wären eine freie und faire Wahl oder Wahlkämpfe ohnehin kaum denkbar gewesen. Zwar gab es seit Sommer 2020 keine größeren Gefechte mehr im Land, seit Oktober 2020 gilt eine Waffenruhe. Aber örtliche Milizen haben weiterhin die Kontrolle. Die Tausenden ausländische Truppen und Söldner sind noch immer nicht abgezogen. Die Wahl könnte nun in einigen Wochen, Monaten oder auch erst in mehr als einem Jahr stattfinden.
In Tripolis, das monatelang von Truppen unter Befehl Haftars belagert wurde, wird teils wieder mobilisiert. Fotos von bewaffneten Gruppen in Geländefahrzeugen und Barrikaden aus Sand machen die Runde. Die Vereinten Nationen zeigen sich besorgt und sehen das Risiko neuer Gefechte als Vorstufe zum nächsten größeren Konflikt. "Jegliche Meinungsverschiedenheiten" sollten im Dialog geklärt werden, vor allem im "schwierigen und komplexen Wahlprozess". Libyen bleibt eines der gefährlichsten Länder weltweit. Auch der Konflikt um Einnahmen aus den Ölreserven spitzt sich seit einigen Tagen wieder zu.
Mit einer Reihe internationaler Treffen hatten die Vereinten Nationen, Deutschland und andere Partner sich bemüht, das Land auf Kurs zu halten. Zwei Konferenzen in Berlin, eine in Paris sowie zuletzt eine in Tripolis zeigten: Beim Thema Libyen kommen hohe und höchste Vertreter beteiligter Länder an einen Tisch. Diese Konferenzen sind aber keine Garantie für einen (längst beschlossenen) Abzug ausländischer Kräfte oder für Wahlen, die eigentlich ebenfalls längst beschlossenen waren.
Aus Sicht der Vereinten Nationen, die nach dem Rücktritt des Sondergesandten Jan Kubis eilig Nachfolgerin Stephanie Williams ins Land beordert haben, wäre die Wahl ein wichtiger Schritt vorwärts. Mit einer Wahl um jeden Preis wächst aber auch die Gefahr, dass unterlegene Konkurrenten ein Ergebnis nicht anerkennen - und dass es zu neuer Gewalt kommt. Und wer will etwa garantieren, dass überall im Land Beobachter zugelassen werden? Und dass Wähler, Kandidaten und Parteien nicht durch bewaffnete Gruppen eingeschüchtert werden?
Nun könnte Experte Megerisi zufolge die nächste Runde anstehen in Libyens "Nullsummen-Konflikt": "ein bekannter Kreislauf aus politischer Verschleppungstaktik, Rohstoffwirtschaft und zäher militärischer Pattsituationen, die die Einrichtungen, Lebensqualität und das soziale Gefüge Libyens weiter zerfallen lassen."