Liebe Sviatlana Tsikhanouskaya,
liebe Tatsiana Khomich,
sehr geehrte Veranika Tsepkala,
liebe KollegInnen und Freunde,
es ist mir eine große Ehre, die Laudatio auf Maria Kalesnikava, Veranika Tsepkala und Sviatlana Tsikhanouskaya, die Trägerinnen des Fritz-Csoklich-Demokratiepreises 2021, zu halten.
Ein großes Dankeschön an die Styria Media Group, dass sie diesen Preis an dieses fantastische Frauenteam vergibt, das so viel für die jüngsten und - da bin ich mir sicher - auch für die künftigen Veränderungen in Belarus getan hat.
Ich erinnere mich, als ich die drei Preisträgerinnen im Sommer 2020 getroffen habe. Darüber schreibe ich in meinem "Minsker Tagebuch": „Sviatlana, Maria und Veranika standen wie Rockstars auf der Bühne, winkten mit weißen Armbändern und schrien in die Mikrofone, wie unglaublich die Belarussen seien. Ich war den Tränen nahe, als ich zum ersten Mal in meinem Leben sah, wie kräftig gebaute Männer (vielleicht Fabrikarbeiter) aus Leibeskräften schrien: "Svie-ta! Svie-ta!"
Wir versuchten, all die Menschen zu zählen, die sich auf dem Bangalore-Platz versammelt hatten, dem traditionellen Protestplatz der Opposition. "Ein Platz für Hundespaziergänger", wie frühere Oppositionsführer ihn zu nennen pflegten. Kein Politiker wollte hierher kommen: Der Platz war zu weit vom Zentrum entfernt und hatte eine zu lange Geschichte aus Niederlagen. Laut Menschenrechtsorganisation Volunteers versammelten sich 63.000 Menschen. So viele Oppositionsdemonstranten hatte es schon lange nicht mehr gegeben. Die Menschen waren ruhig, glücklich und lächelnd, sie glaubten, dass es diesmal anders sein könnte. Und das habe ich auch geglaubt".
Tyrannische Macht
Es mag naiv klingen, was ich hier schreibe, aber in diesem Moment wurde vielen Menschen dank der gemeinsamen Arbeit dreier Wahlteams klar, wie lange die belarussischen Bürger ohne Hoffnung gelebt hatten, wie lange sie unter einer tyrannischen Macht gelebt hatten, die sie beschuldigte, beleidigte und unterdrückte. Hoffnung keimte auf, und das Gefühl, ein Ziel zu haben. Unser Selbstvertrauen wuchs.
Kürzlich habe ich von Sviatlana Tsikhanouskaya selbst die Geschichte der Gründung des vereinigten Wahlteams gehört. Sie erinnerte sich: „In sieben Minuten haben wir beschlossen, es zusammen zu versuchen. Das war ein Schritt, mit dem das Regime sicher nicht gerechnet hatte. Sie waren sich sicher, dass eine Frau nicht viel ausrichten kann. Aber sie konnten sich nicht vorstellen, dass es eine einzigartige Situation geben könnte, in der sich das ganze Volk nicht um die Figur des Führers schart, sondern um die Idee von Neuwahlen, an denen auch andere Kandidaten teilnehmen können".
Enthusiasmus, Solidarität, gegenseitige Unterstützung und Vertrauen, selbst zu denjenigen, die man zum ersten Mal sah, von denen man aber wusste, dass sie derselben Meinung waren, machten die vorherrschende Stimmung in diesen Tagen vor den Wahlen und den ersten Tagen nach den Wahlen aus. Selbst mein Mann und ich, die wir uns der Tatsache bewusst waren, dass die Repressionen im Land schon lange Jahre andauerten und die wir wussten, wozu das Regime fähig war, konnten dieser positiven Stimmung nicht widerstehen.
Großer Andrang, um zu wählen
Im Sommer 2020 verspürten die Belarussen zum ersten Mal seit vielen Jahren den Drang, sich aktiv an den Wahlen zu beteiligen, Wort zu ergreifen und endlich eine andere Zukunft zu wählen, eine Zukunft, verbunden mit Fortschritt und Entwicklung. Hunderte Menschen, inspiriert durch das Team von Maria Kalesnikava, Veranika Tsepkala und Sviatlana Tsikhanouskaya, standen in langen Schlangen, um im In- und im Ausland zu wählen.
Manipuliert
Doch seit dem sonnigen Sommer 2020 ist viel passiert. Entgegen unserer Hoffnungen wurden die Wahlen manipuliert und die darauf folgenden friedlichen Proteste gewaltsam niedergeschlagen. Die Methoden, mit denen der Staat gegen sein eigenes Volk vorging, waren noch viel brutaler als erwartet. Willkürliche Verhaftungen, rechtswidrige Urteile, Folter in belarussischen Gefängnissen sind in diesen Minuten an der Tagesordnung. Menschen kommen ins Gefängnis für einen Facebook-Kommentar oder ein Like, für ein Poo-Emoji, für einen Link zu den so genannten extremistischen Massenmedien in einem privaten Chat. Sie werden monatelang in den überfüllten Zellen ohne saubere Unterwäsche, warme Kleidung oder eine Zahnbürste festgehalten.
Strafkolonie
Die Musikerin, Kulturmanagerin und Wahlkampfleiterin von Viktar Babaryka, Maria Kalesnikava, ist seit mehr als einem Jahr in Haft. Seit acht Monaten in Einzelhaft. Eine sehr schmerzhafte Erfahrung für einen so geselligen Menschen. Im vergangenen Jahr gewaltsam aus dem Land gedrängt, zerriss sie ihren Pass und konnte nicht in das ukrainische Hoheitsgebiet einreisen, sondern wurde inhaftiert. Ihre Heldentat inspirierte viele - in Belarus und im Ausland - und machte Kalesnikava zu einer Kultfigur des belarussischen Widerstands. Im September 2020 wurde Maria hinter verschlossenen Türen wegen ihrer politischen Tätigkeit zu elf Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Doch ihr strahlendes Lächeln mit dem roten Lippenstift weckt immer noch Hoffnung in uns, ihr unnachgiebiger Glaube an die Zukunft des Landes hilft uns, angesichts der Unrechtmäßigkeit und des Zynismus der Behörden nicht aufzugeben, ihr starker Charakter dient als Beispiel für alle, die in einem freien Belarus leben wollen.
„Ich betrachte meine Entscheidung, am Wahlkampf teilzunehmen, als die wichtigste und verantwortungsvollste in meinem Leben. Ich wusste, dass es schwer werden würde, aber es geht um die Zukunft der Nation. Also ist es das wert. Meine Liebe zu Belarus und zum belarussischen Volk erlaubte es mir nicht, abseits zu stehen", - sagte sie im September in einem Interview mit Chatham House. "Wir mussten oft sehr schwierige Entscheidungen treffen, aber das Wichtigste ist, dass wir nie von unseren Prinzipien und Werten abgewichen sind - der Gerechtigkeit des Gesetzes, der Freundlichkeit, dem Respekt und der Liebe. Ich glaube, das ist der einzig richtige Weg".
Familien retten
Veranika Tsepkala und Sviatlana Tsikhanouskaya trafen eine weitere Entscheidung, um ihre Familien und ihre Freiheit zu retten. Um ihre Arbeit und ihren Kampf fortzusetzen, waren sie gezwungen, ins Exil zu gehen, wie Tausende von Belarussen, die sich im Sommer und Herbst 2020 aktiv an den Wahlkämpfen und friedlichen Protesten beteiligten.
Veranika Tsepkala, Managerin für Geschäftsentwicklung, ist heute Vorsitzende und Gründerin der Belarussischen Frauenstiftung, die sich gegen die vom Lukaschenka-Regime ausgeübte Repressionen gegen Frauen in Belarus wehrt. Derzeit befinden sich unter den 869 offiziell anerkannten politischen Gefangenen 94 Frauen. Und diese Zahl nimmt ständig zu. Die Stiftung setzt sich für die Freilassung der weiblichen politischen Gefangenen ein und unterstützt die unterdrückten belarussischen Frauen. Eines ihrer Projekte ist das Sammeln und Dokumentieren der Geschichten von Frauen, die unter dem Regime gelitten haben, von Frauen, die in Belarus Repressionen wie Folter, Schlägen und Demütigung ausgesetzt waren. Das Beweismaterial wurde bereits dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) in Den Haag übergeben.
In einem der jüngsten Interviews mit Radio Free Europe sagte Veranika Tsepkala: „Die Leute sahen, dass wir keine Ambitionen hatten, wir machten unsere gemeinsame Arbeit und sprachen sie als Bürger des Landes an. <...> Manchmal bin ich bereit, aufzugeben, aber wenn ich den Enthusiasmus [der Frauen meiner Stiftung] sehe, wenn ich an die weiblichen politischen Gefangenen denke, wenn ich Interviews mit Frauen führe und so viel Schmerz in ihren Augen sehe, weil sie so viel durchmachen mussten, dann finde ich die Energie, weiterzukämpfen und vorwärts zu gehen".
Zur Präsidentin gewählt
Sviatlana Tsikhanouskaya war diejenige, die wir zur neuen Präsidentin gewählt haben, aber sie musste gleich nach den Wahlen aus dem Land fliehen. Seitdem ist sie das Gesicht des demokratischen und europäischen Weißrusslands geworden. Lukaschenkas Behörden behaupteten, sie sei nur eine gewöhnliche Hausfrau, was nicht stimmte. Tatsächlich war Swiatlana Lehrerin und Übersetzerin. Und das politische Potenzial, das in ihr verborgen war, ist einfach erstaunlich. Ihre Ehrlichkeit, ihre Aufgeschlossenheit, ihre Bereitschaft, hart zu arbeiten und ständig etwas Neues zu lernen, machen sie zu einer der besten Führungskräfte, die wir je hatten. Es ist nicht einfach, zu überblicken, wie viele Politiker aus aller Welt sie bereits getroffen hat, wie viele Brücken sie für die Zukunft unseres Landes geschlagen hat, wie oft sie vor einflussreichsten Staatsoberhäuptern über die Folter in belarussischen Gefängnissen und über politische Gefangene gesprochen hat, wie dringend wir echte Maßnahmen der EU und anderer Staaten brauchen, um Lukaschenkas Handlungen zu verurteilen und zu stoppen. Sie zerstören unser Land und den Frieden in der Region.
Wir wurden Schwestern
„Meine ersten Schritte tat ich aus Liebe. Ich wollte dieses Schicksal nicht für mich. Ich wollte nicht in die Politik gehen. Aber nachdem ich diese Entscheidung getroffen hatte, musste ich der Verantwortung nachkommen. Mehrmals war ich bereit, aufzugeben, aber dann sah ich all die Schlangen von Menschen, die darauf warteten, ihre Unterschrift abzugeben. Es war undenkbar, diese Menschen zu verraten. <....> Dann traten zwei Frauen in mein Leben. <....> Wir verbrachten nicht allzu viel Zeit miteinander. Es waren eineinhalb Monate. Aber es war die beste Zeit. Wir wurden Schwestern, wir unterstützten einander. Von Beginn an fühlten wir uns ständig bedroht, als Feindinnen des Regimes. Wir besuchten drei Städte an einem Tag, auf der Fahrt teilten wir unsere Gedanken und standen einander bei. Das half uns, stark zu sein." - so beschreibt Sviatlana Tsikhanouskaya ihre Gefühle über ihre Präsidentschaftskampagne.
Bruder und Schwägerin in Haft
Obwohl ich Nachrichten über Sviatlanas Besuche und Aktivitäten natürlich schon lange verfolge, haben wir uns erst vor zehn Tagen in Berlin bei der vom Büro Tsikhanouskaya organisierten Diskussion über die Zukunft der belarussischen Kultur getroffen, zu der ich und mein Mann und Schriftsteller Alhierd Bacharevic, der Diskussionsteilnehmer aus Graz, angereist waren. Ich trug meine Gedichte vor, Sviatlana sprach über die Bedeutung der Kulturentwicklung und abends hatten wir die Gelegenheit, uns zu unterhalten. Wir sprachen über Gedichte und Bücher und darüber, ob mein Bruder, wie viele andere ein politischer Gefangener, in die Disziplinarzelle gesteckt werden würde, wenn ich ihm unser Selfie mit Sviatlana schickte. Ich folge ihrem Rat und bewahre das Selfie für bessere Zeiten auf, die sicher bald kommen werden. Dann kann ich dieses Foto nicht nur meinem Bruder und seiner Frau, ebenfalls politische Gefangene, zeigen, sondern auch unserem Staatschef dieses schöne Musikerpaar vorstellen.
Enormes Risiko
Maria Kalesnikava, Veranika Tsepkala und Sviatlana Tsikhanouskaya hatten Angst, wenn sie in einem Auto von einer Stadt oder einem Ort zum anderen fuhren. Sie konnten sich vorstellen, welche Risiken sie eingingen, da Sviatlanas Ehemann Siarhej Zichanouskij bereits inhaftiert worden war und auch der Kandidat des Wahlkampfteams von Maria Kalesnikawa, Viktar Babaryka, und sein Sohn inhaftiert worden waren. Veranika Tsepkalas Ehemann Valery, ein weiterer starker, aber nicht registrierter Kandidat, musste mit seinen Kindern aus dem Land fliehen, da er Gefahr lief, hinter Gitter zu kommen.
Dennoch konnten sie nicht umhin, der Verantwortung, die sie übernommen hatten, nachzukommen. Mutig, mitfühlend, emphatisch, optimistisch, energisch und schön - sie sind die neue Generation der belarussischen Politiker, meine Generation. Sie haben das positive und helle Bild meines Landes in einer Situation geschaffen, in der Belarus nur als ein weißer Fleck auf der postsowjetischen Landkarte galt.
Frauen an die Macht
Sie sind gebildet, beherrschen Fremdsprachen, streben nach Entwicklung, lernen ständig dazu und wünschen sich ein besseres Leben für ihr Volk und nicht für die Macht selbst. Lukaschenka sagte einmal, dass unsere Verfassung nicht für eine Frau gemacht sei. Aber das Jahr 2020 hat gezeigt, dass Maria Kalesnikava, Veranika Tsepkala und Sviatlana Tsikhanouskaya diejenigen sind, denen die Belarussen viel mehr vertrauen können als dem Mann, der die Verfassung für seine eigenen korrupten Zwecke angepasst hat.
Fritz Csoklich
Fritz Csoklich, der legendäre ehemalige Chefredakteur der Kleinen Zeitung, dem der Preis seinen Namen verdankt, unterstützte die Dissidentenbewegung in Osteuropa und pflegte enge Kontakte zu verfolgten Aktivisten. Ich hoffe sehr, dass die Auszeichnung dieser mutigen Frauen, die "unter Einsatz ihres Lebens und ihrer Freiheit für die Absetzung des Diktators Aliaksandr Lukaschenka" und für eine europäische Zukunft Weißrusslands kämpfen, dazu beitragen wird, dass österreichische Politik, österreichische Medien und österreichische Öffentlichkeit nicht die Augen davor verschließen, was in meinem Heimatland immer noch Schreckliches passiert.
Ich gratuliere Maria Kalesnikava, Veranika Tsepkala und Sviatlana Tsikhanouskaya noch einmal zur Verleihung des wohlverdienten Fritz-Csoklich-Demokratiepreises und bin überzeugt, dass die Demokratie nicht zuletzt aufgrund ihrer großen Bemühungen endlich in Belarus Einzug halten wird.
Julia Cimafiejeva, Dichterin und Übersetzerin
17.11.2021, Graz
Julia Cimafiejeva