Ihr Mann ist seit Mai 2020 im Gefängnis in Weißrussland. Sie sprangen für ihn als Präsidentschaftskandidatin gegen Lukaschenko ein, obwohl sie nie Politikerin sein wollten. Nach Ihrem Sieg mussten sie mit Ihren zwei Kindern ins Exil nach Litauen und führen von dort aus die Demokratiebewegung an. Wie kommen Sie mit dieser permanenten Ausnahmesituation zurande?

SWETLANA TICHANOWSKAJA: Ein normales Familienleben ist ohne meinen Mann unmöglich. Ich versuche eine gute Mutter für meine Kinder zu sein. Die Zeiten sind wirklich hart, aber ich weiß, welche Verantwortung ich trage. Ich muss mit vielem fertig werden. Doch hinter mir stehen Millionen Bürger, die dasselbe wollen wie ich: die Freilassung aller politischen Gefangenen und Neuwahlen in Weißrussland. Mein Leben ist ein Kampf, aber ich habe keine Wahl; ich muss tun, was zu tun ist.



Haben Sie Kontakt zu Ihrem Mann?

In Weißrussland haben politische Gefangene keine Möglichkeit, direkt mit ihren Verwandten zu kommunizieren. Das läuft über Anwälte. Wir können Briefe schreiben, das tun auch meine Kinder.



Wie geht es Ihrem Mann im Gefängnis?

Er ist seit mehr als einem Jahr in Einzelhaft. Die Haftbedingungen in Weißrussland sind grässlich: Folter, kaum frisches Essen und frische Luft. Gegen meinen Mann läuft ein sogenannter „Gerichtsprozess“, dem kein Journalist beiwohnen darf. Ein geschlossenes Verfahren, das nicht vor Gericht, sondern im Gefängnis stattfindet. Aber mein Mann ist eine sehr starke Persönlichkeit. Er weiß, dass er seine Freiheit nicht umsonst geopfert hat und dieses Regime eines Tages enden wird. Er glaubt an die Weißrussen und an die Hilfe demokratischer Staaten.

Wir sehen keine großen Protestmärsche mehr in Minsk. Wie realistisch ist die Chance auf einen Wandel in Weißrussland überhaupt noch?

Nur weil es keine großen Demonstrationen gibt, heißt das nicht, dass die Menschen aufgegeben haben. Wer das glaubt, versteht das Ausmaß der Unterdrückung nicht. Wer sich einer Demonstration anschließt, muss damit rechnen, für zehn bis 15 Jahre im Gefängnis zu verschwinden. Mit brutaler Gewalt und Folter war es für das Regime einfach, Demonstrationen zu unterdrücken. Doch die Menschen kämpfen im Untergrund weiter. Unsere Aufgabe besteht darin, laut darauf hinzuweisen, dass sich die Situation in Minsk nicht verändert hat: Tausende Menschen wurden verhaftet, Hunderttausende sind aus Weißrussland geflüchtet. Millionen leben jeden Tag in Angst, entführt, eingesperrt und von ihren Kindern getrennt zu werden.

Tichanowskaja mit Bildern von verletzten Demonstranten
Tichanowskaja mit Bildern von verletzten Demonstranten © AFP



Sind Sie in den vergangenen Monaten auch persönlich bedroht worden?

Mir ist bewusst, dass ich für dieses Regime ein Ziel bin. Und ich weiß nicht, wie weit die Arme des Regimes reichen. Derzeit lebe ich unter dem staatlichen Schutz Litauens, wofür ich sehr dankbar bin. Wenn ich aus irgendeinem Grund plötzlich verschwinden sollte, werden andere da sein, die meinen Platz einnehmen und den Kampf fortsetzen.



Die weißrussischen Behörden ließen sogar ein Passagierflugzeug entführen, um den Blogger Roman Protassewitsch verhaften und in der Folge foltern zu können. Es ist offensichtlich, dass Sie gut auf sich und Ihre Kinder aufpassen müssen.

Ja, das sind schmerzhafte Themen. Aber: Solange ich da bin, muss ich mein Bestes geben. Ich kann nicht sagen, ich habe zu viel Angst weiterzumachen, also gebe ich auf. Das kommt nicht in Frage.
Nach der Wahl im August 2020 nahmen die Behörden Sie für drei Stunden fest und eskortierten Sie danach zur litauischen Grenze. Was haben Sie in diesen drei Stunden Ihrer Inhaftierung erlebt?
Ich war in einem Raum mit Männern hoher Ränge. Sie haben gedroht, meine Kinder ins Waisenhaus zu stecken, und mir die Art von Folter in Aussicht gestellt, wie sie Frauen in Gefängnissen in Belarus erleben. Ich bin bis heute unsicher, ob es richtig war, meine Heimat zu verlassen, aber ich weiß, dass in diesem Moment einfach die Mutter in mir entschieden hat. Ich habe an meine beiden Kinder gedacht, die noch klein sind und mich brauchen.



Das Staatsfernsehen veröffentlichte in der Folge ein Video von Ihnen, in dem Ihre angebliche Niederlage bei der Wahl anerkennen mussten. Entstand diese Aufnahme in Polizeigewahrsam?

Das ist die übliche Vorgangsweise dieses Regimes. Sie versuchen dich zu bedrohen und einzuschüchtern und sagen dann: „Wir bieten dir an, das Land zu verlassen und bei deinen Kindern zu sein, aber nur unter der Bedingung, dass wir das Video aufnehmen.“ Ich wurde zum Glück nicht geschlagen, aber es gibt in Belarus unzählige Fälle, wo Festgenommene mit brutaler Gewalt zu Scheingeständnissen gezwungen werden. So arbeitet der KGB.



Was könnte eine Wende in Belarus herbeiführen? Sehen Sie Risse im Regime?

Die Repression in Belarus ist groß, aber glauben Sie mir: Das Regime leidet auch. Lukaschenko traut niemandem mehr um sich. Er weiß, dass er die Unterstützung des belarussischen Volkes verloren hat. Die demokratische Staatengemeinschaft setzt ihn mit Sanktionen unter Druck. Es ist politisch vorbei mit ihm. Mit Gewalt will er sich an die Macht klammern, um nicht als Verlierer von der politischen Bühne zu gehen. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, bis er fällt. Kein europäisches Land erkennt ihn als legitimen Präsidenten an. Lukaschenko braucht Anerkennung. Das ist auch der Grund, warum er die armen Migranten an die Grenze zu Polen geschickt hat. Er will, dass Europa wieder mit ihm spricht.

Sollte Europa mit Lukaschenko reden, wie es die deutsche Kanzlerin in der aktuellen Migrationskrise gerade tat?

Nein, natürlich nicht. Lukaschenkos Regierungsanspruch ist illegitim. Es ist hoch an der Zeit, dass demokratische Staaten prinzipienfeste Entscheidungen treffen. Schaut, ihr seid mächtige Staaten in der EU, ihr könnt nicht zulassen, dass Lukaschenko versucht, euch an der Grenze zu Polen zu erpressen. Ihr müsst geeint sein wie niemals zuvor. Lukaschenko will Europa mit der Migrationskrise spalten. Jeder EU-Mitgliedsstaat sollte Polen und Litauen unterstützen. Sie verteidigen nicht nur ihre eigenen Grenzen, sondern die Grenzen der gesamten Union. Ich bin überzeugt, dass die EU eine Lösung findet, indem sie mit den Ursprungsländern der Migranten in Kontakt tritt.

Festnahmen bei Protesten gegen die Wahlfälschung in Minsk
Festnahmen bei Protesten gegen die Wahlfälschung in Minsk © AFP



Lukaschenko erklärte sich inzwischen bereit, Migranten in ihre Herkunftsländer zurückzubringen. Halten Sie das für ein glaubwürdiges Versprechen?

Einige Staaten haben bereits Flüge nach Belarus unterbunden. Manche Migranten sehen ein, dass sie nicht frieren und lieber zurückfliegen wollen. Die belarussische Propaganda zeigt arme Kinder, die an der Grenze zu Polen festsitzen – obwohl Lukaschenko sie dort hinbringen ließ und mit ihrem Leben spielt. Wenn Europa diese Schlacht verliert, wird das Regime immer wieder neue Krisen inszenieren.

Europa sollte also hart bleiben.

Ja, aber gleichzeitig sollten die Vereinten Nationen eine humanitäre Mission zu den Menschen an der Grenze entsenden, um ihnen zu helfen, insbesondere Frauen und Kindern.



Wie wollen Sie zu einer politischen Lösung in Belarus kommen wollen, wenn es keine Gespräche mit Lukaschenko gibt?

Das sind zwei verschiedene Dinge. Ich halte es für problematisch, Repräsentanten des Regimes zu internationalen Konferenzen einzuladen, als sei nichts geschehen. Zur Lösung der Krise in Belarus werden selbstverständlich Gespräche nötig sein – im Rahmen einer Plattform wie der OSZE mit professionellen Vermittlern. Wir fordern Lukaschenko seit Monaten dazu auf. Dabei muss es darum gehen, wer in einer Interimsperiode bis zur Neuwahl das Land anführen soll und wie faire Wahlen organisiert werden sollen.

Viele Analysten gehen davon aus, dass Putin großen Einfluss darauf hat, ob Lukaschenko an der Macht bleibt oder nicht. Haben Sie versucht, mit dem Kreml in Kontakt zu treten, um eine Lösung zu finden?

Seit dem Wahlbetrug in Belarus wollten wir mehrmals mit dem Kreml reden. Es kam keine Antwort. Der Kreml griff dem Regime in Minsk zu Beginn vor aller Augen unter die Arme, auch finanziell. Im Moment ist die Unterstützung nicht sehr sichtbar. Ich glaube, im Kreml hat man verstanden, dass Lukaschenko zu toxisch geworden und politisch bankrott ist.

Das Führungstrio der weißrussischen Opposition: Swetlana Tichanowskaja mit Maria Kolesnikowa (zu elf Jahren Haft verurteilt) und Veronika Zepkalo (musste ins Exil)
Das Führungstrio der weißrussischen Opposition: Swetlana Tichanowskaja mit Maria Kolesnikowa (zu elf Jahren Haft verurteilt) und Veronika Zepkalo (musste ins Exil) © AP



Wie sollte sich Weißrussland zwischen der EU und Russland positionieren?

Wir wollen ein neutrales Land sein. Niemand soll Belarus in Zukunft diktieren, mit wem es Handel treiben darf. Ich sehe das neue Belarus als ein freundliches Land, das an seine Menschen und seine Wirtschaft denkt. Wir sind in den vergangenen 27 Jahren zu einem der ärmsten Länder Europas geworden, obwohl wir wunderbare hart arbeitende Menschen und großartige IT-Experten haben. Russland wird immer unser Nachbar sein, mit dem wir auskommen müssen.

Was ist Ihre Vision für Ihr Land?

Wir kämpfen für Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, für das Recht, seine Meinung frei auszudrücken und vor Gericht fair behandelt zu werden. Im Moment herrscht absolute Gesetzlosigkeit. Wir kämpfen für ein Weißrussland, in dem die Bürger respektiert werden und nicht in Angst leben müssen. Alle Institutionen müssen reformiert werden – vom Bildungs- bis zum Gesundheitssystem. Das wird kein plötzlicher Umbruch sein, sondern ein schrittweiser Prozess.

In welcher Rolle sehen Sie sich selbst in der Zukunft Ihres Landes?

Ich hatte niemals vor, in die Politik zu gehen. Ich habe den Belarussen bei den Protesten versprochen, dass ich mich zwar für faire Neuwahlen und einen Übergang einsetzen werde, aber nicht bei den nächsten Wahlen kandidieren werde. Falls unser Land eines Tages eine parlamentarische Demokratie wird, in der dem Staatspräsidentenamt vor allem repräsentative Aufgaben zukommen, werde ich noch einmal darüber nachdenken. Aber das ist noch ein weiter Weg.

Die EU macht Lukaschenko für die Flüchtlingskrise an der polnisch-weißrussischen Grenze verantwortlich
Die EU macht Lukaschenko für die Flüchtlingskrise an der polnisch-weißrussischen Grenze verantwortlich © AFP



Treiben EU-Sanktionen das Regime in Minsk nicht noch stärker in die Arme Putins?

In den 27 Jahren der Herrschaft dieses Regimes sind wir Russland so nahe gekommen, dass der nächste Schritt den Verlust unserer Souveränität bedeuten würde. Aber unsere Unabhängigkeit steht nicht zum Verkauf. Das wird das belarussische Volk nie akzeptieren. Es könnte sein, dass der Kreml die Krisensituation nützen will, um das Regime zur Unterschrift unter einen Deal zu zwingen. Doch Lukaschenko hat nicht das Recht, Verträge mit irgendeinem Land zu unterzeichnen. Solche Verträge würden in Zukunft neu bewertet werden.

Soll die EU härtere Sanktionen gegen Lukaschenko und sein Regime verhängen?

Dieses Mal tritt die EU prinzipientreuer auf. In den vergangenen Jahren, als wir auch schon politische Gefangene hatten, gab es öfter eine Art Abtausch. Wir bitten die EU, eine konsistentere Linie zu verfolgen und politische Gefangene nicht als Verhandlungsmasse einzusetzen. Wenn Menschen hinter Gittern an ihren Grundsätzen festhalten, warum sollten das nicht auch starke und mächtige Staaten tun. Nur die Kombination aus Druck auf das Regime und Unterstützung für die Zivilgesellschaft wird die Situation verändern. Wir wollen unsere Wirtschaft nicht mit Sanktionen ruinieren. Aber wenn man den Leuten in die Augen sieht, die Angehörige im Gefängnis haben, weiß man, dass man alles versuchen muss, um dem Regime begreiflich zu machen, dass es kein Zurück mehr gibt.

Befürworten Sie die Anstrengungen, Lukaschenko vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu bringen?

Wir sind überzeugt davon, dass wieder Gerechtigkeit hergestellt werden muss. Lukaschenko hält tausende Menschen in seinem Land wie Geiseln. Er ist eine Bedrohung für die internationale Sicherheit. Das zeigt die Migrationskrise. Die internationale Gemeinschaft muss ein Zeichen setzen, dass Lukaschenko und seine Handlanger nicht ungestraft davonkommen.

Würden Sie Lukaschenkos Taten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnen?

Auf alle Fälle.

Österreich ist mit Raiffeisen oder A1 in Belarus wirtschaftlich stark vertreten. Wünschen Sie sich mehr Druck von österreichischer Seite auf Lukaschenko?

Wir verstehen, dass große Unternehmen wie A1 nicht ihre Geschäftstätigkeit in unserem Land aufgeben möchten. Allerdings könnten sie ihre Präsenz auch an Bedingungen knüpfen und klarstellen, dass ihre belarussischen Mitarbeiter nicht ins Gefängnis gesteckt werden dürfen, nur weil sie eine andere Meinung vertreten als Lukaschenko. Österreich ist ein reiches Land. Es könnte Studierenden, die aus Universitäten in Weißrussland hinausgeworfen wurden, anbieten, ihre Ausbildung in Österreich abzuschließen. Es könnte Journalisten, Ärztinnen, Sportlerinnen und so viele andere unterstützen, die wegen ihrer politischen Anschauungen massiv unter Druck geraten sind und deswegen sogar ihre Jobs verloren haben.

Haben Sie den Eindruck, dass Österreich bei den Sanktionen der EU gebremst hat?

Davon ist mir nichts bekannt. Österreich übernimmt Verantwortung, indem es die für morgen geplante Belarus-Konferenz veranstaltet. Dafür sind wir der österreichischen Regierung sehr dankbar.

Sie und Ihre beiden Mitstreiterinnen werden morgen von der Styria-Mediengruppe mit dem Fritz-Csoklich-Preis für Demokratie ausgezeichnet. Welche Bedeutung hat ein solcher Preis für Sie?

Ich verstehe diesen Preis nicht als Auszeichnung für mich persönlich, sondern als Anerkennung für die Millionen Menschen in Belarus, die unsere Demokratie-Bewegung ausmachen. Dieser Preis ist ein Symbol des Respekts und zeigt, dass ihr mit uns mitfühlt. Das bedeutet uns viel. Wenn es nicht möglich ist, mit Blumen und Protestmärschen gegen Lukaschenko aufzutreten, geht die internationale Aufmerksamkeit für unser Anliegen zurück. Der Preis kann auch daran erinnern, dass in Weißrussland gerade Menschen abgeführt und gefoltert werden.

Maria Kolesnikowa wurde zu elf Jahren Haft verurteilt
Maria Kolesnikowa wurde zu elf Jahren Haft verurteilt © AFP



Ihre Mitstreiterin Maria Kolesnikowa kann den Preis nicht entgegennehmen. Sie sitzt im Gefängnis. Wissen Sie, wie es Ihr dort ergeht?

Auch Maria ist in Isolationshaft. Das Regime versucht politische Gefangene wie sie, die eine Gabe haben, andere zu inspirieren, mit niemandem sprechen zu lassen. Wir sind nur über Anwälte und ihre Schwester mit ihr in Kontakt. Maria ist eine wundervolle Frau, weiterhin stark und optimistisch, unser Leuchtturm der Hoffnung. Selbst vor Gericht behielt sie ihr Lachen und formte ihr Hände zu einem Herz.

Haben Sie das Gefühl, dass die EU-Bürger schätzen, was sie an der Demokratie haben?

Ihr lebt in wunderbaren demokratischen Ländern, doch ich habe den Eindruck, ihr vergesst manchmal, dass es auch bei euch in der Vergangenheit Menschen gab, die diese Lebensform und die Rechte, die euch heute so selbstverständlich erscheinen, erst hart erkämpfen mussten. Die Freiheit ist nicht selbstverständlich. Man kann sie leicht auch wieder verlieren. Denkt nicht nur an eure sichere, wohlige Welt. Jede Österreicherin, jeder Österreicher kann einen Beitrag leisten, auch mit kleinen Dingen: Schreibt Briefe an politische Häftlinge, um ihnen Mut zu machen. Unterstützt Bürgerrechts-Initiativen oder unabhängige Journalisten mit einer Spende. Weißrussland ist derzeit an der Frontlinie im Kampf zwischen Freiheit und Autokratie. Wir freuen uns über eure Hilfe.