Als Reaktion auf die aktuelle Lage an der EU-Ostgrenze setzt die Europäische Union in Teilen ein Abkommen über Visa-Erleichterungen mit Weißrussland (Belarus) aus, die Amtsträger des Regimes betreffen. Weitere EU-Sanktionen sind in Vorbereitung, sie sollen den Transfer potenzieller Flüchtlinge nach Belarus reduzieren. Nach Angaben von Diplomaten könnten diese Sanktionen bereits bei dem EU-Außenministertreffen am kommenden Montag offiziell beschlossen werden.
Die Maßnahme betrifft "Amtsträger des belarussischen Regimes". Für sie wird es künftig aufwendiger und teurer, ein Visum für die Einreise in die EU zu bekommen. Gewöhnliche belarussische Staatsbürger betrifft der Beschluss nicht. Er wird nun im Amtsblatt der EU veröffentlicht und tritt zwei Tage später in Kraft. Das fragliche Abkommen gilt erst seit Juli 2020.
Zusammenstöße
Polen warnte am Dienstag vor weiteren Zusammenstößen mit Migranten, die sich mit weißrussischer Hilfe gewaltsam Zutritt ins Land zu verschaffen versuchten. "Heute steht die Stabilität und Sicherheit der gesamten EU auf dem Spiel", sagte am Dienstag der polnische Regierungschef Mateusz Morawiecki. "Die Abriegelung der polnischen Grenze ist unser nationales Interesse, doch dieser hybride Angriff des Regimes von Lukaschenko richtet sich gegen uns alle", sagte er. Morawiecki beschuldigte Russland, hinter dem Flüchtlingsstreit zu stecken. "Der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko ist der Ausführende des jüngsten Angriffs, aber der Auftraggeber dieses Angriffs ist in Moskau, und dieser Auftraggeber ist Präsident Putin", sagte Morawiecki auf einer Dringlichkeitssitzung des polnischen Parlaments am Dienstag.
Situation spitzt sich zu
An der EU-Außengrenze zwischen Polen und Belarus spitzte sich die Situation mit Tausenden gestrandeten Migranten unterdessen weiter zu. Polnische Behörden meldeten am Dienstag, eine "große Gruppe" von Sicherheitskräften des autoritär geführten Belarus bewege sich in Richtung eines Lagerplatzes von Migranten im Grenzgebiet. Am Dienstagmorgen schloss Polen den Grenzübergang Kuznica, in dessen Nähe sich die Migranten im Wald aufhalten.
Polnische Behörden halten belarussischen Sicherheitskräften vor, die Lage gezielt destabilisieren zu wollen. So seien Schüsse in die Luft gefeuert und Migranten mit Werkzeugen ausgestattet worden, um den Grenzzaun niederzureißen. Der polnische Grenzschutz zählte am Montag 309 Versuche, die Grenze illegal zu überqueren, 17 Menschen wurden festgenommen, vornehmlich Iraker. Der russische Außenminister Sergej Lawrow schlug vor, dass die Europäische Union Belarus finanzielle Hilfe zukommen lassen könnte, um Migranten fernzuhalten.
"Einer für alle"
Angesichts der zugespitzten Lage an der EU-Ostgrenze forderte EU-Ratschef Charles Michel von den anderen Mitgliedsländern Unterstützung für Polen, Lettland und Litauen. "Polnische und baltische Grenzen sind EU-Grenzen. Einer für alle und alle für einen", sagte der Belgier am Dienstag in einer Rede zum Jahrestag des Mauerfalls in Berlin. Man stehe einem brutalen hybriden Angriff gegenüber. Die ehemalige Sowjetrepublik Belarus setze die Not von Migranten zynisch als Waffe ein.
Die erörterten EU-Sanktionen sollen es unter anderem ermöglichen, in der EU ansässige Unternehmen zu zwingen, mit sofortiger Wirkung sämtliche Geschäftsbeziehungen zu der belarussischen Fluggesellschaft Belavia einzustellen. Dies würde unter anderem zur Folge haben, dass Flugzeugleasinggesellschaften an die Airline ausgeliehene Maschinen zurückfordern müssten. Zudem könnten auch Reiseveranstalter sowie Fluggesellschaften aus Drittstaaten ins Visier genommen werden.
Gezielt Migranten anlocken
In der EU hofft man, mit Druck auf sowie der Sanktionierung von Fluggesellschaften die Anzahl der Personen reduzieren zu können, die aus armen oder konfliktreichen Ländern nach Belarus kommen. Der Führung in dem Land wird vorgeworfen, gezielt Migranten ins Land zu holen, um sie dann zur Weiterreise in die EU an die Grenze zu Polen zu bringen. Die Vermutung ist, dass sich Machthaber Alexander Lukaschenko damit für Sanktionen rächen will, die die EU wegen der Unterdrückung der Zivilgesellschaft und der demokratischen Opposition erlassen hat.
"Schleppernetzwerke"
Die weißrussische Regierung wies am Dienstag internationale Anschuldigungen gegen das Land zurück. Lukaschenko machte Schleppernetzwerke für die Tausenden Migranten an der Grenze zu Polen verantwortlich. Die Flüchtlinge nutzten diese Strukturen und bezahlten viel Geld, um ein besseres Leben im Westen zu finden, sagte Lukaschenko am Dienstag in einem von Staatsmedien in Minsk ausgestrahlten Interview. "Das sind ja keine armen Leute, die kommen", meinte er. "Sie haben ein Loch bei uns entdeckt." Die Einreise der Migranten in Belarus sei völlig legal, sagte der 67-Jährige. Zugleich betonte er, dass bisweilen Schlepper gefasst würden, ein Bürger aus Belarus sei aber nie darunter.
"Wir möchten die polnische Seite im Voraus davor warnen, beliebige gegen die Republik Belarus gerichtete Provokationen zu nutzen, um mögliche illegale Militäraktionen gegen benachteiligte unbewaffnete Menschen (...) zu rechtfertigen", heißt es in einer am Dienstag veröffentlichten Mitteilung des Außenministeriums in Minsk.
Ausnahmezustand in Litauen
Litauen, das im Norden an Weißrussland grenzt, wollte am Dienstag angesichts der zugespitzten Lage an der EU-Außengrenze für einen Monat den Ausnahmezustand in der Grenzregion verhängen. Die Regierung des baltischen EU-Landes legte dem Parlament in Vilnius am Dienstag einen entsprechenden Beschluss zur Billigung vor. Der Ausnahmezustand soll demnach ab Mitternacht entlang der Grenze zu Belarus und fünf Kilometer landeinwärts gelten sowie in den Migrantenunterkünften.
Bundeskanzler Alexander Schallenberg (ÖVP) versicherte Polen die "volle Solidarität in diesen schwierigen Zeiten". "Wir werden nie akzeptieren, dass Migranten von dem Regime in Belarus als Waffen instrumentalisiert werden!", betonte der Kanzler am Montagabend ein einem auf Englisch verfassten Tweet. Laut Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP) will Belarus die EU "erpressen" und "gezielt spalten". Gebot der Stunde sei daher, die EU-Länder an der Außengrenze umfassend zu unterstützen, erklärte Edtstadler in einer der APA am Dienstag übermittelten, schriftlichen Stellungnahme.
Österreichs Außenminister Michael Linhart (ÖVP) bezeichnete in einer Aussendung am Dienstag das Vorgehen von Weißrussland, Menschen zu importieren und an eine Grenze zu stellen, als "Menschenrechtsverletzung und Erpressung". Österreichs volle Solidarität gelte Polen und Litauen als leidtragende Staaten, erklärte er. "Wir müssen als Europäische Union zusammenstehen und uns entschlossen zur Wehr setzen." "Die EU-Kommission muss Polen bei der Sicherung der EU-Außengrenze unterstützen und die nötigen Mittel für die Errichtung eines robusten Grenzzaunes bereitstellen", betonte am Dienstag Innenminister Karl Nehammer (ÖVP). Hilfe bei der Registrierung von Migranten anzubieten sei hingegen das völlig falsche Signal, kommentierte Nehammer. Die EU sei gefordert hier endlich tätig zu werden und die Lösung des Problems dürfte nicht alleine Polen überlassen werden, erklärte am Dienstag Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP). "Wegducken und wegschauen ist jetzt keine Option mehr", erklärte sie und forderte einen "gemeinsamen EU-Außengrenzschutz".