Die Flüchtlingskrise steht erneut vor der Tür: Die Zahl der Asylanträge in Europa steigt wieder; manche fürchten wegen der Taliban einen Ansturm aus Afghanistan. Sie haben sich Ihr Leben lang mit Flucht befasst: Was sollen wir tun?
PAUL COLLIER: Die Lösung besteht nicht darin, alle aufnehmen zu wollen. Das ist eine völlig verquere Idee. Die überwältigende Mehrheit der Menschen, die ihre Heimat verlässt, wandert nicht nach Europa, sondern sucht in sicheren Häfen Zuflucht, die sich in unmittelbarer Nähe ihrer Heimat befinden. Diese Zufluchtsorte sind oft selbst von großer Armut betroffen. Die Pflicht der reichen Länder besteht aus meiner Sicht darin, den Menschen an diesen Orten zu helfen.
Aber die Bekenntnisse zur „Hilfe vor Ort“ haben sich vielfach als Lippenbekenntnisse erwiesen.
Viele Regierungen und Helfer verstehen nicht, was nötig ist: Wir müssen den Zufluchtsländern so helfen, dass es für sie von Interesse ist, ihre Türen offenzuhalten – und so, dass sie Flüchtlingen erlauben, Arbeit anzunehmen. Die Menschen wollen sich ein Einkommen erarbeiten. Deshalb ist das Konzept des UNHCR, Flüchtlinge in Zeltstädten unterzubringen, infantilisierend. Nur eine kleine Minderheit der Flüchtlinge zieht überhaupt in diese Zeltlager ein. Die meisten wollen in echte Städte, wo sie einen Job bekommen können.
Diese Jobs gibt es aber oft nicht.
Genau. Ich habe in Jordanien gearbeitet, das Hunderttausende Menschen aus Syrien aufgenommen hat. Spannungen gab es nicht, weil es kulturelle Unterschiede gegeben hätte, sondern zu wenig Arbeitsplätze. Also haben wir der jordanischen Regierung vorgeschlagen, wir würden – im Gegenzug für ihre Aufnahme der Flüchtlinge – europäische und amerikanische Unternehmen animieren, in Jordanien zu investieren, sodass hier neue Jobs entstehen. Die Jordanier waren sofort dabei und sagten: Von 100 Arbeitsplätzen, die ihr hier bei uns schafft, werden 70 an Flüchtlinge gehen, 30 aber an die Jordanier. Und das hat funktioniert und sich zum Modell für andere Länder entwickelt. Darin sehe ich die Zukunft unserer Flüchtlingshilfe. Die Frage, wie vielen Menschen wir in Europa Asyl geben, ist ein Nebenschauplatz.
Wie lässt sich so ein Modell finanzieren?
Wir haben schon jetzt ausreichend Instrumente, um Unternehmen zu fördern und ihr Risiko zu minimieren, wenn sie in Ländern wie Pakistan tätig werden. Aber es braucht klare Zielsetzungen für solche Projekte. Dazu kommt: Im Moment geben wir 135 Euro für jeden Asylsuchenden aus, der nach Europa kommt – und nur einen Euro für einen Asylsuchenden, der in eines der meist armen Nachbarschaftsländer geht. Das ist die verrückte Gleichung aus moralischem Anspruch und der Idee, die Leute nach Europa kommen zu lassen. Großbritannien hat sein Gesundheitssystem die letzten 30 Jahre mit Ärzten und Gesundheitspersonal aus Afrika aufrecht erhalten – Menschen, die in ihren Herkunftsländern ausgebildet wurden. Wir Briten verfügen über 18 der 100 Top-Universitäten der Welt. Alle 18 haben wunderbare Medizin-Unis, bilden aber weniger als halb so viele Ärzte aus wie wir brauchen. Ghana muss mehr als zwei Mal so viele Ärzte ausbilden, wie das Land benötigt – weil die Hälfte von ihnen nach Großbritannien aufbricht. Es sind wirklich beschämende Strategien, die wir hier verfolgen.
Erfolge sehen Sie keine?
Mein ganzes Leben lang war ich damit beschäftigt, den armen Ländern zu helfen, ihren Rückstand zu uns aufzuholen. Aber: Sie holen nicht auf! Und durch die Corona-Krise werden sie noch weiter zurückfallen. Die reichen Industriestaaten haben in der Pandemie etwa 20 Prozent ihres BIPs ausgegeben, um ihre Unternehmen zu retten – was sinnvoll war. In Afrika, wo es ohnehin schon viel, viel weniger Unternehmen und unternehmerisches Kapital gibt, konnten die Regierungen im Schnitt nur zwei Prozent ihres BIPs ausgeben, um Firmen zu retten. Und so brechen die ohnehin schon wenigen afrikanischen Unternehmen Schritt für Schritt zusammen. Das ist die wahre Tragödie. Die Stärke des Westens liegt in seiner erfolgreichen Wirtschaft. Unsere Firmen zu unterstützen, damit sie in die armen Länder gehen und dort die Wirtschaft beleben, ist um ein Vielfaches billiger, als in Afghanistan Krieg zu führen.
Dennoch betonen Sie oft, dass auch außerhalb Afrikas nicht alle gut durch die Corona-Krise gekommen sind.
Die Pandemie hat uns vor Augen geführt, dass wir tagtäglich mit radikaler Ungewissheit konfrontiert sind. Manche Staaten – und Unternehmen – haben die Fähigkeit, damit umzugehen, andere nicht. Dänemark konnte seine Corona-Maßnahmen kürzlich fast zur Gänze aufheben. Die Corona-Todesrate in Dänemark ist die niedrigste in ganz Europa. Und die Folgen der Pandemie-Maßnahmen haben die dänische Wirtschaft weniger hart getroffen als die anderer Länder. Was hat Premierministerin Mette Frederiksen, eine alleinerziehende Mutter, besser gemacht als andere? Ihr ist es gelungen, wirklich mit den Leuten zu reden und zu vermitteln, dass es bei der Pandemie alle braucht, um einander zu schützen. Wenn man sich aber die USA zu Beginn der Pandemie ansieht, wo 40 Jahre lang eine überzogene Vorstellung von Individualismus, ja letztlich Egoismus gepredigt wurde, fällt auf, dass sich dort lange Schlagen vor den Waffengeschäften bildeten. Die Devise lautete nicht „Beschütze deinen Nachbarn“, sondern sie lautete: „Erschieße deinen Nachbarn.“ Und das ist keine besonders effektive Maßnahme, um mit dem Corona-Virus umzugehen.
Ist das wirklich ein kulturelles Problem?
Das Beispiel zeigt die enorme Kluft in der Fähigkeit, als Gesellschaft für ein gemeinsames Ziel zusammenzukommen. Die USA sind in der Krise immer mehr auseinandergedriftet. Dahinter steht das, was auch ich selbst einst an den Wirtschaftsunis gelernt und gelehrt habe: Die These, dass der Mensch ein auf Eigennutz ausgerichtetes Wesen sei, das ständig immer mehr haben will. Das gipfelte dann in den 80er Jahren in einer „Geiz ist geil“-Mentalität. Dieser Ansatz hat sich in den großen Metropolen durchgesetzt, die dann die Menschen in den Regionen abgehängt haben, was letztlich zum Brexit führte. Doch die Ego-These ist wissenschaftlich nicht länger haltbar, das hat die Evolutionsbiologie bewiesen. Wir Menschen finden Geiz gar nicht so geil. Man denke an die Forschungen von Joseph Henrich, der wunderbar beschrieben hat, dass das Erfolgsgeheimnis der Menschheit über die Jahrtausende darin bestand, gemeinsam etwas zustande zu bringen und von einander zu lernen.
Ganz uneigennützig sind wir aber nicht.
Wir sind zwar keine Heiligen, aber wir sind in erster Linie soziale Wesen. Und das beginnt sich zum Glück jetzt auch an den Wirtschaftsuniversitäten niederzuschlagen. Rebecca Henderson beispielsweise, Top-Wissenschaftlerin an der Harvard Business School, schreibt darüber, oder auch Raghuram Rajan, Wirtschaftsprofessor an der Universität Chicago: Was wir wieder entwickeln müssen, ist gesellschaftlicher Zusammenhalt.
Wie stellt man einen Zusammenhalt her, wenn er nicht da ist?
Die erste Investment-Bank, die in der Finanzkrise 2008 bankrott ging, war Bear Stearns. Bei denen stand in der Eingangshalle auf der Wand: „We make nothing but money“ – Wir tun nichts außer Geldverdienen. Und die Angestellten machten dann daraus: „We make nothing but money – for ourselves“ – sie holten mehr für sich selbst heraus. Um als Unternehmen oder Gesellschaft erfolgreich zu sein, braucht es Ziele, die nicht einzig darin bestehen, mehr Geld zu verdienen. Menschen wollen ernst genommen werden und gestalten. Es braucht eine Führungskultur, wo nicht einer an der Spitze glaubt, er weiß alles besser. Man muss Erfahrungswissen, möglichst lokal, mit Expertenwissen verbinden. Wenn alle eingebunden sind, entwickelt sich Zusammenhalt.
Was bedeutet das für Probleme wie Migration oder Klimakrise?
Dass dieser Zugang auch für globale Probleme funktioniert, hat sich in der Pandemie gezeigt: Bei der Entwicklung der Impfstoffe sah man die Macht der Kooperation. Wir müssen wieder dort hingelangen. Die wenig wohlhabenden Regionen Großbritanniens müssen zum reichen London aufschließen – wie vielleicht auch einige österreichische Regionen zu Wien. Auch Ghana war auf diese Weise erfolgreich. In Afrika brauchen wir noch vier bis fünf solcher Erfolgsgeschichten, die es schaffen, aufzuholen – dann werden die anderen versuchen, das Erfolgsgeheimnis zu kopieren. Das ist es, was mich antreibt und was ich unbedingt noch erleben möchte.