Die EU will vorerst keine konkreten Zusagen zur Aufnahme von Menschen aus Afghanistan machen. "Anreize zur illegalen Migration sollten vermieden werden", heißt es in einer am Dienstag bei einem Sondertreffen der Innenminister verabschiedeten Erklärung. Vor dem Hintergrund der bisherigen Erfahrungen seien die EU und ihre Mitgliedstaaten entschlossen, eine Wiederholung von großen und unkontrollierten illegalen Migrationsbewegungen zu verhindern. Damit wurde auf die sogenannte Flüchtlingskrise in den Jahren 2015/2016 angespielt. Damals kamen Millionen von Migranten in die EU. Viele von ihnen stammten aus Syrien, wo 2011 ein Bürgerkrieg begonnen hatte.
Um eine ähnliche Entwicklung nach der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan zu vermeiden, soll laut der Erklärung nun sichergestellt werden, dass notleidende Menschen in der unmittelbaren Nachbarschaft Afghanistans angemessen Schutz erhalten. Zudem werden unter anderem gezielte Informationskampagnen gegen die Narrative von Menschenschmugglern als geeignetes Instrument genannt. Die Ansiedlung schutzbedürftiger Afghaninnen und Afghanen ("Resettlement") soll demnach nur dann erfolgen, wenn EU-Staaten dafür freiwillig Plätze anbieten.
Innenminister Karl Nehammer hatte bereits im Vorfeld des Treffens bekräftigt, keine zusätzlichen Afghanen aufnehmen zu wollen. Solange Österreich "so hohe Belastung durch irreguläre Migration" habe, finde er es "völlig unangemessen, über Resettlement zu reden". Wenn die EU es einmal schaffe, "sichere Außengrenzen zu haben, dann kann man über andere Programme nachdenken", betonte der Innenminister weiter.
Die Annahme der heutigen Erklärung begrüßte Nehammer. "Es ist tatsächlich gelungen, ein wichtiges Signal" zu senden, sagte er nach dem Treffen mit Verweis auf Hilfe vor Ort und in der Region. Die "klare Botschaft" an die Menschen sei, "machen sie sich nicht auf den Weg" nach Europa.
Internationale Organisationen sollten mit "möglichst vielen Ressourcen" unterstützt werden - dabei habe es "eine große Bereitschaft" unter den EU-Staaten gegeben, berichtete Nehammer. Die Initiative Österreichs, den Dialog mit den nördlichen Nachbarstaaten Afghanistans zu starten, ist ihm zufolge "wohlwollend" unter den Mitgliedsländern aufgenommen worden. Auch gebe es zwei "wichtige Partner, die nicht vergessen werden dürfen": Pakistan und, wenn auch "diplomatisch sensibel", der Iran. "Prioritär" seien zudem die Sicherheitsinteressen. "Wir müssen wissen, wer zu uns gekommen ist", sagte Nehammer mit Blick auf die Evakuierungen aus Afghanistan in den vergangenen Tagen.
Der ÖVP-Politiker sprach von einer "sehr emotionalen Diskussion" bei dem Treffen. Aber selbst der für Migration zuständige luxemburgische Außenminister Jean Asselborn habe sich am Ende "kompromissbereit" gezeigt, so Nehammer. Asselborn hatte zeitweise gedroht, die EU-Erklärung wegen aus seiner Sicht unzureichender Unterstützungszusagen zu blockieren. Seiner Ansicht nach sollte die Europäische Union, "40.000 bis 50.000 Resettlement-Plätze für afghanische Flüchtlinge" zur Verfügung stellen.
Asselborn rief zum Widerstand gegen Österreich auf
Asselborn hatte in der Debatte um die Aufnahme von Flüchtlingen zum Widerstand gegen Österreich und den EU-Vorsitz Slowenien aufgerufen. "Ich hoffe, dass es Widerstand gibt gegen Herrn Kurz aus Österreich und Herrn Jansa aus Slowenien, die sich beide klar und definitiv im Einklang mit Orban, Salvini und Le Pen befinden", sagte Asselborn der "Welt" vor dem Sondertreffen der EU-Innenminister am Dienstag. Sie alle lehnten eine "direkte menschliche Solidarität in diesem extrem dramatischen Moment mit dem gefolterten Volk in Afghanistan ab", erklärte der luxemburgische Sozialdemokrat. "Sie verlieren damit die Qualität, ein Europäer zu sein", sagte der dienstälteste Außenminister der EU der deutschen Zeitung weiter.
Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) reagierte mit scharfer Kritik und warf Asselborn "billigen Populismus" vor. Die Kritik an Kurz sei "schlicht absurd", so Schallenberg unter Verweis darauf, dass Österreich weltweit gesehen pro Kopf die viertgrößte Community an Afghanen und die zweitgrößte innerhalb der EU beherberge. "Es wäre zu begrüßen, würde Asselborn einen ähnlichen Grad an Solidarität und Mitmenschlichkeit zeigen. Dafür müsste Luxemburg nämlich sechsmal so viele Afghanen aufnehmen, wie derzeit dort leben. Dann wäre er vielleicht in einer Position, Ratschläge zu erteilen".
Ähnlich äußerte sich auch Nehammer. "Hier verspielt sich gerade der Herr Asselborn seinen guten Ruf, weil es wäre hier wichtig faktenbasiert zu diskutieren", so der Innenminister vor dem Treffen.
Auch sein deutscher Amtskollege Horst Seehofer meldete sich dazu. "Herr Asselborn sollte ein bisschen stärker die Probleme betrachten, die die großen Länder in der Europäischen Union haben", sagte er. Man rede hier nicht über ein paar hundert Personen, sondern über viele tausend, die jetzt schon in Deutschland seien. "Luxemburg ist ja mit sehr kleinen Zahlen immer bei diesen Dingen vertreten und sie sollten ein Stück mehr Rücksicht nehmen auf die Interessen der Hauptaufnahmeländer", fügte er hinzu.
Neues Neuansiedlungsforum
Asselborn lenkte am Ende ein, nachdem die EU-Kommission zugesagt hatte, im September ein neues Neuansiedlungsforum zu organisieren. Dort könnten dann Länder zusagen, eine bestimmte Zahl Schutzbedürftiger aufzunehmen.
Der Kritik Seehofers an Österreich, das Land sei nicht bereit, sich an einer gemeinsamen Asylpolitik zu beteiligen, hat Nehammer nach eigenen Angaben mit einer Gegenfrage an seinen Amtskollegen gekontert: "Wenn wir denn egoistisch seien, warum kontrolliert dann Deutschland die Grenze zu Österreich, um irreguläre Migration zu verhindern?"
Kanzleramtsministerin Karoline Edtstadler erteilte indes der Forderung von SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner aus dem ORF-"Sommergespräch", besonders gefährdete Menschen, etwa Richterinnen, nach Österreich zu holen, am Dienstag eine Absage: Nicht nur die Wiener SPÖ, auch die rote Bundespartei habe aus dem Jahr 2015 mit seiner Flüchtlingswelle "nichts" gelernt.
Appell der 90 ohne Österreich
Auf Initiative der USA richteten am Wochenende 90 Staaten einen Appell an die Taliban, weiterhin Menschen ausreisen zu lassen, berichtet die "Presse". Nur drei Staaten machten nicht mit: Österreich, Ungarn und Tschechien.
Das Außenamt in Wien habe sich an folgendem Satz gestoßen: "Wir werden bestimmten Afghanen weiterhin Reisedokumente ausstellen." Österreich will freiwillig keinen einzigen afghanischen Flüchtling zusätzlich aufnehmen noch Reisepapiere ausstellen. "Wir sind einfach ehrlicher als andere", wurde der "Presse" vom Außenministerium beschieden.
Menschen retten, die geholfen haben
Andere Staaten in Europa lehnen diese rigide Haltung ab, zumal von der großen Flüchtlingswelle, die Österreich ständig beschwöre, keine Rede sein könne. Man wolle aber Menschen retten, die den westlichen Staaten in den vergangenen Jahren in Afghanistan geholfen hätten und besonders gefährdet seien.
Im Außenministerium verweist man gegenüber der Kleinen Zeitung auf die hohe Zahl von afghanischen Flüchtlingen, die Österreich bereits aufgenommen habe - es ist die zweithöchste Zahl in Europa, nach Schweden. Um auf dasselbe Verhältnis zur einheimischen Bevölkerung zu kommen, müsste allein Deutschland 365.000 Menschen zusätzlich aufnehmen, Frankreich 287.000, rechnet ein Mitarbeiter vor.
Österreich konzentriert sich auf die Hilfe vor Ort. Außenminister Alexander Schallenberg verwies am Wochenende erneut auf die bereits vergangene Woche angekündigten 18 Millionen Euro Soforthilfe. Drei Millionen davon kommen aus dem Auslandskatastrophenfonds (AKF), 15 Millionen seien "frisches Geld". Damit sollen insbesondere Frauen und Mädchen in der Region unterstützt werden.
Auf die Frage, mit welchen Organisationen - neben dem UNO-Flüchtlingshochkommissariat (UNHCR) und UN Women - dabei zusammengearbeitet werden solle, antwortete Schallenberg, dass dies von den Bedürfnissen der Länder abhänge. Wesentlich sei aber, dass die Partner weiterhin vor Ort präsent seien und dass für die Organisation auch Vertrauen in der Bevölkerung bestehe.
Die entwicklungspolitische Dachorganisation AG Globale Verantwortung bezeichnete die Soforthilfe in einer Stellungnahme für die APA als "wichtigen ersten Schritt", forderte aber gleichzeitig "konsequente und langfristige" Hilfe. Einmalmaßnahmen würden wenig helfen. Wenn es die österreichische Bundesregierung mit ihrer "viel zitierten 'Hilfe vor Ort'" ernst meine, solle sie sich an Deutschland ein Beispiel nehmen, appellierte Geschäftsführerin Annelies Vilim. "Unser Nachbarland hat bereits zugesagt, zu seinen 100 Millionen Euro für Soforthilfe weitere 500 Millionen Euro für längerfristige Unterstützungsmaßnahmen bereitzustellen".
Die EU-Verteidigungsminister kommen am morgigen Mittwoch und Donnerstag zu informellen Beratungen in Kranj in Slowenien zusammen. Schwerpunkt ist laut der slowenischen EU-Ratspräsidentschaft die Diskussion über einen "strategischen Kompass" der EU. Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) wird ebenfalls daran teilnehmen. Das Treffen diene dazu, die Agenda für das kommende Halbjahr festzulegen, mit speziellem Fokus auf Afghanistan, hieß es aus dem Verteidigungsministerium.