Heute Nacht endete mit dem Abzug der letzten US-Soldaten vom Flughafen Kabul der US-Militäreinsatz in Afghanistan. Damit endete auch die militärische Mission zur Evakuierung von US-Bürgern, Verbündeten und schutzbedürftigen Afghanen. US-Präsident Joe Biden, der am Dienstag eine Ansprache hält, und Außenminister Antony Blinken versprachen, man werde weiter alles daran setzen, zurückgebliebene Amerikaner und andere Schutzsuchende aus dem Land zu holen. Vor gut zwei Wochen übernahmen die radikalislamististischen Taliban wieder die Macht – wie der jüngste Anschlag auf dem Flughafen von Kabul zeigt, bleibt die Lage mehr als explosiv. Nicht zuletzt ein Ableger des Islamischen Staates (IS) bedroht das Volk.
Weiter Ringen um Hilfe
Wem gehört der Flughafen – und wer wird ihn nach dem heutigen Abzug der US-Truppen kontrollieren? Diese Frage ist für die Taliban genauso wichtig wie für den Westen, der künftig weitere Menschen aus Afghanistan ausfliegen will. Eines steht schon fest: Ab heute wird die Kontrolle über den Hamid-Karzai-Flughafen von den Taliban übernommen. Es gibt Befürchtungen, dass ausländische Bürger oder Afghanen mit Reisegenehmigung dann keine Möglichkeit mehr haben, das Land zu verlassen. Die Taliban haben zwar zugesichert, dass sie geregelte Ausreisen weiter zulassen würden. Doch auch hier glaubt man wohl eher den Taten als den Worten der Miliz. Frankreich und Großbritannien wollen unterdessen eine "sichere Zone" in Kabul "unter Kontrolle der UNO" schaffen, um die humanitären Einsätze fortsetzen zu können.
Neue Steinzeit-Regierung
Bald wollen die radikalislamischen Taliban ihr Kabinett vorstellen: Es ist noch unklar, ob die wichtigsten Führer Posten bekommen – oder ob diese aus dem Hintergrund heraus agieren. Als wahrscheinlicher Kandidat für das Präsidentenamt wird indes Abdul Ghani Baradar gehandelt – einer der frühen Weggefährten des ersten Taliban-Führers Mullah Omar: ein nicht so guter alter Bekannter, der bereits während der ersten Taliban-Herrschaft wichtige Ämter bekleidete. Hibatullah Achundsada ist derzeit der höchste Führer der Taliban – fehlt er in der Regierung, wird diese zum Marionettenspiel. Ein weiterer Kandidat ist Gul Agha: Dass er seit Langem die Geldströme der Taliban koordiniert und in Pakistan Schutzgeld einsammelte, um Terroranschläge zu finanzieren, soll ihn zum Finanzminister "legitimieren".
Was droht den Menschen?
Was die Wahrung menschenrechtlicher Mindeststandards anbelangt, ist die Lage so düster wie unklar: Frauen in Afghanistan etwa sollen nach Angaben der Taliban-Regierung auch künftig studieren können, obgleich "gemäß dem Scharia-Gesetz" bzw. in einer nach Geschlechtern getrennten Lehre. Viele, die für die abgesetzte Regierung, die afghanischen Streitkräfte oder Ausländer im Einsatz waren, haben Angst vor möglichen Racheaktionen der Islamisten. Explosiv bleibt auch das Verhältnis der Taliban zu Al Kaida und dem IS-K, Ablegers des Islamischen Staates in Afghanistan. Laut einem aktuellen Bericht der UNO sind erst in jüngster Zeit bis zu 10.000 Jihadisten aus Nachbarstaaten in das Land gekommen. Die tödlichen Feindschaften zwischen den Extremisten lassen weitere Terroranschläge wie jüngst in Kabul befürchten.
Was werden wir erfahren?
Mit dem Abzug der US-Truppen aus Afghanistan werden auch die meisten ausländischen Journalisten das Land verlassen. Und einheimische Reporter müssen nun um ihr Leben fürchten. Der Zugang zu gesicherten Informationen über die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan werde nun wesentlich erschwert, sagt Andreas Pfeifer, Ressortleiter der ZiB-Ausland im ORF. Zahlreiche afghanische Lokalmedien hätten ihre Berichterstattung unter dem Druck der neuen Machthaber ein- oder auf islamistische Propaganda umgestellt, betont Pfeifer. "Offenbar soll sowohl über das westliche Totalversagen als auch über die neuen Repressionen der Taliban ein Mantel des Schweigens gehüllt werden. So zählt die Pressefreiheit zu den ersten Freiheiten, die trotz aller moderaten Prophezeiungen der handelnden Akteure dieser afghanischen Wendezeit zum Opfer fallen", bilanziert der ZiB-Auslandschef dazu.
57 EU-Millionen für Afghanistan
"Man darf nicht vergessen: Die EU ist einer der Hauptakteure, aber nicht der einzige." So versuchte gestern ein Sprecher der Kommission, die Rolle der EU in der Afghanistanfrage zu relativieren. Seit 1994 ist insgesamt rund eine Milliarde Euro nach Afghanistan geflossen, für heuer waren 57 Millionen vorgesehen. Dieser Betrag wurde vervierfacht, die somit mehr als 200 Millionen gehen an, wie es heißt, "vertrauenswürdige" NGO und UN-Organisationen, ein wesentlicher Teil fließt in die von der Flüchtlingswelle betroffenen Nachbarländer Iran und Pakistan. Die Geldflüsse sollen genau kontrolliert werden, bei Gefahr von Missbrauch will man rasch reagieren. Eine bereits budgetierte Entwicklungsmilliarde liegt vorerst auf Eis. Gestern Abend nahmen die EU-Spitzen und die Außenminister mehrerer europäischer Länder an einer von den USA aktivierten Videokonferenz teil, heute gibt es in Brüssel ein Sondertreffen der EU-Innenminister, bei dem es auch ums Thema Migration geht. Außenbeauftragter Josep Borrell hat zuletzt vorgeschlagen, die EU sollte jetzt eine rund 5000 Mann starke militärische Einsatzgruppe auf die Beine stellen.