Bei dem Doppelanschlag auf den Kabuler Flughafen sind nach jüngsten Angaben mehr als 70 Menschen getötet worden. Es gebe mindestens 72 Todesopfer, sagten zwei Ex-Mitarbeiter des afghanischen Gesundheitsministeriums am Freitag. Unter den Opfern seien viele Frauen und Kinder. Nach Angaben der militant-islamistischen Taliban wurden 13 bis 20 Zivilisten getötet. Das gehe aus Berichten von Krankenhäusern hervor, sagte ein Sprecher der Islamisten am Freitag.
Bei den Explosionen vor dem Flughafen von Kabul sollen indes mindestens 28 Taliban-Mitglieder ums Leben gekommen sein. Wie ein Mitglied der Taliban gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters erklärt, hätten sie damit mehr Einsatzkräfte verloren als die Amerikaner. Die USA haben zuletzt 13 getötete Soldaten gemeldet.
Unbestätigte Medienberichte und Videos vom Tatort deuten auf Dutzende einheimische Todesopfer hin, hinzu kommen zahllose Verletzte. Das US-Verteidigungsministerium erklärte, es seien auch 18 Soldaten verwundet worden. Die Verletzten würden in speziell ausgerüsteten Flugzeugen ausgeflogen, hieß es.
Isis-K bekannte sich
Der Angriff sei von mindestens zwei Selbstmordattentätern ausgeführt worden, die dem "Islamischen Staat" (IS) zugerechnet würden, sagt Frank McKenzie, Chef des für die Region zuständigen Central Command der USA. Nach den Detonationen hätten eine Reihe von IS-Kämpfern das Feuer auf Zivilisten und Soldaten eröffnet. Es sei mit weiteren Anschlägen der Extremistengruppe zu rechnen. Die USA würden jedoch dessen ungeachtet, den Evakuierungseinsatz zu Ende führen. In Afghanistan dürften sich noch etwa 1.000 US-Bürger aufhalten, sagte McKenzie.
Unterdessen wird die Evakuierung der verbliebenen Österreicher immer schwieriger, nachdem Länder wie Deutschland ihre Evakuierungsflüge beendet haben.
Der Evakuierungseinsatz der gut 5.000 US-Soldaten in Kabul soll trotz der jüngsten Ereignisse wie geplant am Dienstag kommender Woche enden, wie Biden betonte. Damit können auch die Verbündeten ihre Staatsbürger und frühere örtliche Mitarbeiter nicht mehr evakuieren. Die US-Luftwaffe und Flugzeuge Verbündeter hätten am Donnerstag ab dem Vormittag bis kurz vor Mitternacht (Ortszeit Kabul) rund 7.500 Menschen evakuiert. Damit sei die Zahl der seit Mitte August ausgeflogenen Afghanen und westlicher Staatsbürger auf 100.100 angestiegen, erklärte ein Vertreter des Weißen Hauses.
US-Präsident Joe Biden hat den dafür verantwortlichen Terroristen mit Vergeltung gedroht. "Wir werden euch jagen und euch dafür bezahlen lassen", sagte Biden am Donnerstag im Weißen Haus. Er kündigte Einsätze des US-Militärs gegen die für den Anschlag verantwortliche Terrormiliz Islamischer Staat (IS) an - und die Fortsetzung der Evakuierungen aus Afghanistan.
Die nun getöteten US-Soldaten sind die ersten amerikanischen Soldaten, die seit dem Abkommen der USA mit den Taliban im Februar 2020 gewaltsam in Afghanistan ums Leben kamen.
Weitere Explosion
Bei weiteren Explosionen am Flughafen in der afghanischen Hauptstadt Kabul hat es sich nach Angaben der Taliban um kontrollierte Detonationen des US-Militärs gehandelt. Die US-Streitkräfte zerstörten Ausrüstung, teilte Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid auf Twitter mit. "Bürger Kabuls sollten nicht besorgt sein."
Zeugen zufolge war Kabul am Freitag früh (Ortszeit) erneut von einer starken Explosion erschüttert worden. Zwei Anrainer berichten aus Kabul von dem Geräusch einer schweren Explosion. Diese habe sich in einer Gegend drei bis vier Kilometer von Flughafen entfernt ereignet.
Zahl der Toten dürfte noch steigen
Die Nichtregierungsorganisation Emergency sprach von mindestens sechs getöteten Menschen. Mehr als 60 weitere seien verletzt worden, teilte die NGO, die ein Krankenhaus vor Ort betreibt, mit. Ein Vertreter der Taliban sprach zunächst von 13 Toten, darunter mehrere Kinder sowie Taliban-Mitglieder. Später sagte Taliban-Sprecher Zabiullah Mujahid von mindestens 52 Verletzten. Es habe auch Tote gegeben, allerdings sei die Zahl noch unklar. Es gab Befürchtungen, dass die Zahl der Todesopfer noch signifikant ansteigt. Auf Videos waren Dutzende Opfer zu sehen.
UN-Generalsekretär António Guterres lud angesichts der chaotischen Situation und der angespannten Sicherheitslage in Afghanistan die Vetomächte zu einem Krisentreffen ein. Diplomatenkreisen zufolge sollen die Botschafter der USA, Chinas, Russlands, Großbritanniens und Frankreichs am Montag in New York mit dem UN-Chef zusammenkommen, um sich über die Lage auszutauschen.
Ein Vertreter der Taliban verurteilte den Angriff am Flughafen. "Angriffe auf unschuldige Zivilisten sind Terrorakte", sagt ein Vertreter der Islamisten dem türkischen TV-Sender Habertürk. Dass solche Angriffe stattfänden, liege an der Anwesenheit ausländischer Truppen.
Selbstmordattentäter sprengte sich in die Luft
Vor dem Flughafen hat es zwei Explosionen gegeben - eine an einem der Flughafentore und eine bei einem nahe gelegenen Hotel. Ein auf Twitter geteiltes Bild, das offenbar vom Inneren des Flughafengeländes aufgenommen wurde, zeigte eine große Rauchwolke. Der lokale Fernsehsender ToloNews veröffentlichte auf Twitter Bilder, auf denen zu sehen ist, wie Verletzte in Schubkarren transportiert werden. Ein Augenzeuge erzählte dem TV-Sender, die Explosion sei sehr stark gewesen. Manche Menschen seien ins Wasser - an einem Gate ist ein langer Wassergraben - und mehrere ausländische Soldaten zu Boden gefallen. Er habe auch Tote gesehen.
Der gut vernetzte afghanische Journalist Bilal Sarwari schrieb auf Twitter, ein Selbstmordattentäter habe sich in einer großen Menschenmenge in die Luft gesprengt. Mindestens ein weiterer Angreifer habe danach das Feuer eröffnet. Sarwari berief sich auf mehrere Augenzeugen in dem Gebiet.
Kommentar
Deutschland, Italien, Großbritannien und die Türkei erklärten, es seien keine Soldaten aus ihren Ländern unter den Opfern. Es gebe keine Hinweise, dass bei dem Anschlag am Donnerstag Österreicher zu Schaden gekommen seien, teilte das Außenministerium der APA auf Anfrage mit.
Evakuierungen werden immer schwieriger
Angesichts der Terrorgefahr und den zu Ende gehenden Evakuierungsflügen wird eine Evakuierung der verbliebenen mehreren Dutzend Österreichern aus Afghanistan immer schwieriger. Die Bemühungen, Österreicher und Personen mit österreichischer Aufenthaltserlaubnis bei der Ausreise zu unterstützen, liefen mit Hochdruck weiter, sagte Außenministeriumssprecherin Gabriele Juen am Donnerstag. Die Krisenteams des Außenministeriums würden in den Nachbarländern ihre Bemühungen fortsetzen, die Österreicher vor Ort bestmöglich zu unterstützen und auch an den Grenzen zu den Nachbarländern bei einer möglichen Ausreise über den Landweg helfen.
89 Österreicher wurden bisher aus Afghanistan gebracht. Allerdings organisiert Österreich keine eigenen Evakuierungsflüge, sondern bat andere Länder - darunter Deutschland -, die betroffenen Personen mitzunehmen.
Allerdings hat Deutschland seinen Evakuierungseinsatz wegen des bevorstehenden Abzugs der US-Streitkräfte vom Flughafen und der Terrorgefahr am Donnerstag beendet. Am Donnerstagabend (Ortszeit) hoben die drei letzten Maschinen mit schutzbedürftigen Personen an Bord in Kabul ab. Es seien alle deutschen Soldaten, Diplomaten und verbliebenen Polizisten aus der afghanischen Hauptstadt ausgeflogen worden, sagte die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer in Berlin nach dem Start der letzten Maschine.
Nach Angaben von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron standen am Abend noch 20 Busse mit französischen Staatsbürgern und anderen Personen, die geschützt werden sollen, vor den Toren des Flughafens. Eine erfolgreiche Evakuierung könne jedoch nicht garantiert werden. Auch die niederländische Regierung rechnete damit, dass am Donnerstag die letzte ihrer Maschinen für Evakuierungsflüge in Kabul abheben wird, wie es in Unterrichtung des Parlaments hieß. Auch Ungarn hat seine zwei Militärmaschinen, die an den Evakuierungen beteiligt waren, bereits abgezogen, wie das Verteidigungsministerium in Budapest mitteilte.
Unterdessen brechen immer mehr Afghanen in Richtung Pakistan auf. Täglich überquerten mindestens 10.000 Afghanen die Grenze bei Spin Boldak/Khaman, sagte ein Grenzbeamter der dpa. Zuvor seien es an normalen Tagen etwa 4.000 gewesen. Die meisten seien auf dem Weg zu Verwandten in Städten und Regionen unweit der Grenze. Pakistan hat seit 40 Jahren Millionen afghanische Flüchtlinge aufgenommen. Aktuell sind es 1,4 Millionen Afghanen, die als Flüchtlinge offiziell registriert sind, und etwa 600.000 undokumentierte Afghanen.
Auch die Balkanländer Albanien und Kosovo erklärten ihre Bereitschaft, insgesamt etwa 6.000 Menschen zumindest vorübergehend aufzunehmen. Die EU-Innenminister wollen kommenden Dienstag zur Lage in Afghanistan beraten. Dabei soll es auch um Migrationsbewegungen in Richtung Europa gehen.
Die Taliban haben Mitte August die Macht in Afghanistan an sich gerissen.