Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat Fehleinschätzungen der internationalen Gemeinschaft bei der Entwicklung in Afghanistan eingeräumt und ein weiteres humanitäres Engagement für die Menschen dort in Aussicht gestellt. "Klar ist: Die Taliban sind jetzt Realität in Afghanistan, und viele Menschen in Afghanistan haben große Angst", sagte Merkel am Mittwoch in einer Regierungserklärung im Bundestag. "Diese neue Realität ist bitter."
Ihre Regierung werde nicht "davor zurückscheuen", auch Gespräche mit den radikalislamischen Taliban zu führen. "Unser Ziel muss es sein, dass so viel wie möglich von dem, was wir in den letzten 20 Jahren in Afghanistan an Veränderungen erreicht haben, bewahrt wird", sagte Merkel. Die Kanzlerin nannte zwei weitere Ziele der derzeitigen deutschen Afghanistan-Politik. Zum einen solle der Evakuierungseinsatz "so lange wie möglich" fortgesetzt werden, "um auch Afghaninnen und Afghanen, die sich mit uns für Sicherheit, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Entwicklung eingesetzt haben, das Verlassen des Landes zu ermöglichen".
Des weiteren werde Deutschland die Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen bei der Notversorgung der Menschen in Afghanistan unterstützen. Die Bundesregierung werde daher neben 100 Millionen Euro Soforthilfe weitere 500 Millionen Euro für die humanitäre Hilfe in Afghanistan und den Nachbarländern zur Verfügung stellen. Abermals räumte die Kanzlern Fehleinschätzungen der Bundesregierung und ihrer internationalen Partner ein. Es sei unterschätzt worden, "wie umfassend und atemberaubend" schnell der Widerstand gegen die radikalislamischen Taliban aufgegeben worden sei, sagte Merkel. Die gesamte internationale Koalition habe die Geschwindigkeit dieser Entwicklung "ganz offensichtlich unterschätzt".
In diesem Zusammenhang wolle sie sich aber auch eine "etwas zugespitzte persönliche Anmerkung" erlauben, sagte die Kanzlerin. "Hinterher, im Nachhinein, präzise Analysen und Bewertungen zu machen, das ist nicht wirklich kompliziert", sagte sie. "Wir, die internationale Staatengemeinschaft, wir konnten aber nicht hinterher, im Nachhinein, entscheiden." Merkel sagte ein weiteres Engagement zur Rettung der ehemaligen Ortskräfte zu: "Wir bemühen uns weiterhin mit allen Kräften, vor allem den Afghanen zum Verlassen des Landes zu verhelfen, die Deutschland als Ortskräfte der Bundeswehr, der Polizei und der Entwicklungszusammenarbeit zur Seite gestanden und sich für ein sicheres, freies Land mit Zukunftsperspektiven eingesetzt haben."
Die Kanzlerin zeigte sich erschüttert über die Lage in Afghanistan. Die Entwicklung der vergangenen Tage sei "furchtbar" und "bitter". Für die Menschen in Afghanistan sei dies eine "einzige Tragödie", vor allem für diejenigen, die sich für eine freie Gesellschaft eingesetzt hätten. Merkel rief dazu auf, die Geschehnisse in Afghanistan in Ruhe zu analysieren und dann Lehren für künftige Militäreinsätze im Ausland zu ziehen: "Von den Antworten wird abhängen, welche politischen Ziele wir uns realistischerweise für zukünftige und für aktuelle weitere Einsätze im Ausland setzen dürfen."
Merkel nannte eine Reihe von Fragen, die nun geklärt werden müssten - etwa: "Waren unsere Ziele zu ehrgeizig? Kamen diese Ziele und die mit ihnen verbundenen Werte bei aller Unterstützung aus der afghanischen Zivilgesellschaft wirklich bei der Mehrheit der Menschen in Afghanistan an? Haben wir das Maß der Korruption beziehungsweise ihre Wirkung bei den verantwortlichen Afghanen unterschätzt?"
Merkel machte in ihrer Rede keine Angaben dazu, wie lange die Evakuierungsflüge der deutschen Bundeswehr noch andauern. Aus Sicherheitskreisen hatte es zuvor geheißen, dass die Bundeswehr-Luftbrücke voraussichtlich schon am Freitag enden werde. Merkel betonte, dass Ende der Luftbrücke dürfe nicht das Ende der Bemühungen sein, afghanischen Ortskräften zu helfen.