Durch eine US-geführte Militärinvasion wurden die Taliban vor 20 Jahren in Afghanistan gestürzt - nun stehen sie kurz vor der Rückeroberung der Macht. Im Zuge ihres rasanten Eroberungsfeldzugs drangen die Radikalislamisten am Sonntag bis an den Stadtrand von Kabul vor, Präsident Ashraf Ghani floh nach den Worten seines früheren Stellvertreters ins Ausland.

Zwar versicherte ein Taliban-Sprecher, die Machtübernahme solle "friedlich" ablaufen und die Miliz strebe eine Regierung der "nationalen Einheit" an. Doch die Erinnerung an die einstige Schreckensherrschaft der Taliban lässt viele Afghanen für die Zukunft das Schlimmste befürchten.  Für die Bewohner Kabuls beginnt unter Taliban-Herrschaft ein neuer Alltag

Verschwunden die westliche Mode auf den Straßen, so gut wie verschwunden auch die Frauen. Stattdessen dominieren Männer in den traditionellen langen Hemden und unförmigen Hosen das Straßenbild von Kabul, im staatlichen TV laufen islamische Sendungen oder Verlautbarungen des Leiters des Taliban-Medienkanals "Stimme der Scharia". Die vergangenen zwei Jahrzehnte sind wie ausgelöscht: Die Menschen in der afghanischen Hauptstadt versuchen sich nun an einer neuen Normalität.

An diesem Dienstag gibt es keine Anzeichen dafür, dass diese mittelalterlichen Methoden wieder eingeführt werden könnten. Die Taliban rufen die Beamten auf, "voller Vertrauen" an ihre Arbeit zurückzukehren. Einige scheinen sich den Rat zu Herzen zu nehmen: Zum ersten Mal seit Tagen sind wieder Verkehrspolizisten auf den Straßen zu sehen - auch wenn sie nicht viel zu tun haben.

Vor dem Eingang zur Grünen Zone, in der die meisten Botschaften und internationalen Organisationen untergebracht sind, demonstrieren ein paar Frauen für ihr Recht, dort wieder als Köchinnen oder Reinigungskräfte arbeiten zu dürfen. Ein Lastwagen mit Taliban-Kämpfern fährt vor, vergeblich versuchen diese, die Frauen zu verscheuchen - sie weichen erst auf Bitten von Zivilisten.

Taliban-Sprecher Suhail Shahin hat am Montagabend versichert, dass Frauen in Zukunft nichts zu fürchten hätten. "Ihr Recht auf Bildung ist ebenfalls geschützt", beteuert er. Berichte aus den Provinzen, in denen die radikalislamischen Kämpfer schon länger die Kontrolle übernommen hatten, zeichnen allerdings ein anderes Bild.

Auch in Kabul laufen einige erste Zusammentreffen zwischen Taliban-Kämpfern und Einwohnern offenbar rauer ab als von deren Führung erwünscht. "Einige sind freundlich und machen überhaupt keinen Ärger", sagt ein Mann, während er versucht, an einem Kontrollpunkt der Taliban vorbei zu seinem Büro zu gelangen. "Aber andere sind brutal. Sie schubsen dich herum und schreien dich grundlos an."

Die Schreckensherrschaft der Taliban im Überblick

DIE RELIGIÖSEN STUDENTEN

Der Name der Miliz ist vom arabischen Wort "talib" (Student) abgeleitet. Ihren Ausgang nahm die Bewegung an sunnitisch-islamischen Koranschulen in Pakistan, wo viele vor der sowjetischen Besatzung Afghanistans (1979-89) geflüchtete junge Männer studierten. Als nach dem sowjetischen Abzug in Afghanistan ein Bürgerkrieg ausbrach, wurden in der südafghanischen Provinz Kandahar die Taliban als Verbund von Kämpfern mit radikalislamischer Gesinnung gegründet.

Kandahar ist eine Bastion der ethnischen Gruppe der Paschtunen, der die meisten Taliban angehören. Mitbegründer der Taliban war der einäugige Kriegsfürst und Kleriker Mullah Omar, der die Miliz bis zu seinem Tod im Jahr 2013 anführte.

DIE ERSTE EROBERUNG DER MACHT

Während des Bürgerkriegs der neunziger Jahre hatten die Taliban anfänglich die heimliche Unterstützung der USA. Vor allem profitierten sie aber von massiver Hilfe aus Pakistan. Die Taliban waren nicht nur mit Panzern und schweren Waffen ausgerüstet, sondern hatten auch das Geld, um sich die Unterstützung örtlicher Warlords zu erkaufen. Am 27. September 1996 übernahmen die Taliban mit dem Einmarsch in Kabul die Macht im Land.

DIE SCHRECKENSHERRSCHAFT

Die Taliban-Herrschaft basierte auf einer extrem rigiden Auslegung der Scharia, des islamischen Rechts. Musik, Tanz, Fernsehen und andere beliebte Freizeitaktivitäten wie das Steigenlassen von Drachen waren verboten. Mädchenschulen wurden geschlossen, Frauen durften keiner Erwerbstätigkeit nachgehen. Sie mussten zudem die Ganzkörperbedeckung Burka tragen.

Die Einhaltung der Vorschriften wurde von einer Religionspolizei überwacht. Die Strafen bei Gesetzesverstößen waren oft grausam. Dieben wurde die Hand abgehackt, es gab öffentliche Auspeitschungen. Frauen, die des Ehebruchs bezichtigt wurden, wurden zu Tode gesteinigt.

Für weltweite Empörung sorgten die Islamisten, als sie 2001 die jahrhundertealten Kolossalstatuen des Buddha im Bamijan-Tal sprengen ließen. Ihre internationale Pariah-Rolle stärkten die Taliban auch dadurch, dass sie dem Terrornetzwerk Al-Kaida und dessen Anführer Osama bin Laden Unterschlupf gewährten.

DER STURZ

Nach den von Al-Kaida verübten Terroranschlägen vom 11. September 2001 in USA machte der damalige US-Präsident George W. Bush die Taliban mitverantwortlich. Afghanistan war das erste Ziel seines "Krieges gegen den Terror". Im Oktober 2001 rückten die USA und ihre Verbündeten in Afghanistan ein, schon im Dezember waren die Taliban gestürzt.

DER AUFSTAND

Im bewaffneten Widerstand gegen die vom Westen unterstützte Regierung in Kabul stellten die Taliban dann ihre Beharrungskräfte unter Beweis. Im Kampf gegen die zehntausenden internationalen Soldaten im Land setzten sie vor allem auf Sprengstoff- und Selbstmordanschläge.

Im Dezember 2014 endete der Kampfeinsatz der NATO am Hindukusch, die Mehrzahl der westlichen Soldaten wurde in der Folge abgezogen.

DIE OFFENSIVE

2018 begannen in Doha in Katar die ersten direkten Gespräche zwischen der Regierung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump und den Taliban. Die Gespräche mündeten am 29. Februar 2020 in eine Vereinbarung, in der ein Zeitplan für den Abzug der US-Truppen abgesteckt wurde.

Der Abzug verzögerte sich zwar zwischenzeitlich, begann dann aber unter Trumps Nachfolger Joe Biden im Mai. Parallel zu den USA zogen auch die anderen NATO-Truppen aus Afghanistan ab, darunter die Bundeswehr. Inzwischen ist der Abzug fast vollendet, während die Taliban einen Großteil des Landesterritoriums und fast alle Großstädte unter ihre Kontrolle gebracht haben.