Von allen europäischen Staaten waren die Briten, deren Geschichte in Afghanistan weit zurück reicht, dort immer am stärksten engagiert gewesen. Mehr als 100.000 britische Soldaten waren seit 2001 in Afghanistan im Einsatz. 454 wurden getötet in dieser Zeit.
Der Triumph der Taliban in Afghanistan führt zu einer der schwersten Vertrauenskrisen zwischen London und Washington. Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace warnte gestern vor den „katastrophalen Folgen“ der US-Abzugs-Entscheidung und einer verhängnisvollen „Fehleinschätzung“ der militärischen Situation durchs Weiße Haus.
Wallace erklärte, es sei „weder der richtige Zeitpunkt noch die rechte Entscheidung“ der USA gewesen, die alliierte Präsenz in Afghanistan zu beenden: „Nun wird sehr wahrscheinlich al-Qaida wieder ein Comeback feiern.“ Außerdem müsse die westliche Welt jetzt mit einer Massenzuwanderung von Flüchtlingen rechnen. Man werde „den Preis zu bezahlen haben“ für diesen „Fehler“ US-amerikanischer Politik.
Der Verteidigungsminister enthüllte auch, dass man in London versucht habe, in aller Eile ein Bündnis für weitere westliche Militärpräsenz in Afghanistan ohne die USA zu schmieden. Man sei aber zum Schluss gekommen, dass das nicht möglich sei.
Premierminister Boris Johnson suchte derweil die Wogen zu glätten mit der Bemerkung, es hätte „nie einen rechten Zeitpunkt“ für einen Abzug gegeben. „Wir müssen realistisch sein, was die Fähigkeit des Vereinigten Königreichs oder irgend einer anderen Macht angeht, Afghanistan eine militärische Lösung aufzuzwingen“, erklärte der Regierungschef.
"Was würde Churchill sagen?"
Damit stieß Johnson aber auf scharfen Widerspruch bei vielen Konservativen. „Was würde Churchill sagen?“ fragte Tobias Ellwood, der Vorsitzende des Verteidigungspolitischen Ausschusses des Unterhauses entrüstet. „Was ist nun mit dem Anspruch, dass auf der Weltbühne wieder ein globales Britannien und Amerika stehen?“
Ellwoods Kollege Tom Tugendhat, der den außenpolitischen Ausschuss leitet, sprach von dem „größten außenpolitischen Desaster seit Suez“ für Großbritannien. Es sehe so aus, „als ob unsere Außenpolitik nun vollkommen von Washington gemacht wird“. Tugendhat fragte auch, warum Außenminister Dominic Raab sich die letzten Tage beharrlich in Schweigen gehüllt habe, statt Stellung zu beziehen.
Sondersitzung des Parlaments
Für Mittwoch dieser Woche ist nun das Parlament zu einer Sondersitzung aus den Sommerferien zurück gerufen worden. Unterdessen mühten sich kurzfristig zurück gekehrte britische Einheiten in den Tumulten des Sonntag, noch rund 7.000 britische Staatsbürger und Afghanen, die den britischen Streitkräften im Laufe der Jahre halfen, aus Kabul zu evakuieren.
Probleme mit Evakuierung
Probleme mit der Evakuierung gab es allerdings von Anfang an. Schon am Samstag wurde bekannt, dass afghanische Studenten, denen man ein Visum zum Studieren in Großbritannien zugesagt hatte, nun keins mehr erhalten würden, weil das technisch „nicht mehr machbar“ war.
Viele Dolmetscher und ihre Familien, und andere, die sich ein Visum erhofft hatten, erhielten ebenfalls Bescheid, man könne ihnen keinen Sitz auf einer der letzten Maschinen mehr anbieten. Nachdem die britische Botschaft in Kabul am Sonntag geschlossen worden war, wurden in letzter Minute am Flughafen noch behelfsmäßig Visen ausgestellt.
Der „Sunday Times“ zufolge berichteten mehrere Militärs aber, das britische Innenministerium habe das Asyl-Angebot begrenzt „wegen der Botschaft, die das an andere Flüchtlinge senden könnte“. In London fürchte man auch, dass sich Terroristen unter die Flüchtigen schmuggeln, die man nun auszufliegen suche, meldete das Blatt.
unserem Korrespondenten Peter Nonnenmacher aus London