Dass die Taliban alles überrennen und das ganze Land kontrollieren werden, ist extrem unwahrscheinlich“, sagte US-Präsident Joe Biden vor wenigen Wochen.  Inzwischen ist der „unwahrscheinliche“ Fall eingetreten: Nach ihrem überraschend schnellen Eroberungsfeldzug haben die radikal-islamischen Taliban die afghanische Hauptstadt Kabul erreicht und stehen nach 20 Jahren vor einer Rückkehr an die Macht. Gerade einmal gut ein Vierteljahr nach Beginn des internationalen Truppenabzugs rückten die Extremisten in Kabul ein. Sie kommen „von allen Seiten“, sagte ein ranghoher Ministeriumsvertreter der Nachrichtenagentur Reuters. Daraufhin ergab sich die Regierung und stimmte einer friedlichen Machtübergabe zu. Ein Angriff auf die Stadt sollte verhindert werden. Noch am Sonntagabend nahmen Taliban-Kämpfer den Präsidentenpalast in Kabul ein. Der afghanische Präsident Ashraf Ghani hat kapituliert und das Land unter dem Druck des Taliban-Vormarsches verlassen.

"Der Krieg in Afghanistan ist vorbei", sagte Taliban-Sprecher Mohammed Naim am Sonntagabend dem Sender Al Jazeera. In Kürze werde feststehen, wie das Land künftig regiert werde. "Die Art der Herrschaft und die Regierungsform werden bald klar sein." Naim sagte, man versichere, dass man Staatsangehörige und diplomatische Vertretungen schützen werde. Die Taliban seien auch zum Dialog mit allen afghanischen Persönlichkeiten bereit und werde ihnen den notwendigen Schutz garantieren. Man gehe jeden Schritt verantwortungsbewusst und sei daran interessiert, mit allen Beteiligten Frieden zu haben.

Was die Sorgen der internationalen Staatengemeinschaft angehe, so wollten die Taliban diese im Dialog lösen. Der Kontakt zu anderen Staaten werde gesucht, da man nicht in Isolation leben wolle. "Wir bitten alle Länder und Organisationen, sich mit uns zusammenzusetzen, um alle Probleme zu lösen."

Evakuierung der US-Botschaft sowie deutscher Staatsbürger

Schon in den Vortagen hatten die USA und andere westliche Staaten mit den Vorbereitungen zum Ausfliegen von Botschaftsangehörigen und ihrer Staatsbürger aus Afghanistan begonnen, darunter Deutschland. Österreich hat kein Botschaftspersonal in Kabul, Afghanistan wird von Islamabad aus betreut.

Rund 5000 US-Soldaten sind mit der Evakuierung der Landsleute befasst. Die Evakuierung der US-Botschaft in Kabul ist nach Angaben des Außenministeriums mittlerweile abgeschlossen. Das gesamte Botschaftspersonal befinde sich auf dem Gelände des Flughafens von Kabul, dessen Umgebung vom US-Militär gesichert werde, erklärte das Ministerium am Sonntagabend (Ortszeit). 

Wie geht es nun weiter?

Wie es nun jedoch für die Menschen im Land weiter geht, bleibt offen. Ein Minister kündigte eine Übergangsregierung an. Taliban-Vertreter relativierten dies jedoch, es gehe um eine komplette, wenn auch „friedliche“ Machtübergabe. Der in Katar ansässige Taliban-Vertreter Suhail Shahin trat im Interview mit der BBC außerdem Befürchtungen entgegen, dass die Islamisten auf ähnlich drakonische Weise herrschen könnten wie damals. Die Taliban wollten eine „inklusive islamische Regierung“ bilden, in der „alle Afghanen“ vertreten seien. Shahin versicherte, dass die Kämpfer der Taliban keine ausländischen Botschafter oder Staatsbürger angreifen würden: Er appellierte an die Ausländer, das Land nicht zu verlassen.


Er versicherte außerdem, dass die Rechte von Frauen respektiert würden. Frauen würden Zugang zu Bildung haben und auch arbeiten sowie alleine das Haus verlassen dürfen. Strafen wie Hinrichtungen, Steinigungen und Amputationen müssten von Gerichten entschieden werden. Medien solle eine kritische Berichterstattung erlaubt werden.

Diesen Versprechungen schenken die Menschen natürlich wenig Glauben. Die afghanische Bevölkerung macht sich bereit, erneut von religiösen Extremisten beherrscht zu werden. In Kabul spielten sich am Sonntag chaotische Szenen ab. Erinnerung an die früheren Jahre brutaler Taliban-Herrschaft zwischen 1996 und 2001 wurden wach. Viele Menschen versuchten, ihr Erspartes abzuheben, Lebensmittel zu kaufen und zu ihren Familien heimzukehren. Ein Soldat aus Kabul sagte, seine gesamte Einheit habe die Uniformen abgelegt. Denn nach wie vor geht die Terrororganisation mit enormer Brutalität vor. Es gibt Berichte, dass sie gefangene Regierungssoldaten hingerichtet haben, zum Teil auch Zivilisten. Frauen dürften in den bereits besetzten Gebieten nicht mehr ohne männliche Begleiter das Haus verlasssen. Außerdem räche sich die Miliz an Frauen, die sich für ihre Rechte eingesetzt hatten.


Der ehemalige Außenminister Afghanistans, Rangin Spanta, zeichnete für sein Land im Interview mit Deutschlandfunk ein pessimistisches Bild: „Der Bildungssektor, Frauenrechte, Pressefreiheit etc. Das sind alles große Errungenschaften der letzten zwanzig Jahre, die wir zum großen Teil wieder verloren haben.“