Die radikalislamischen Taliban verzeichnen weitere Gebietsgewinne auf ihrem Eroberungszug durch Afghanistan. Nach Angaben aus Sicherheitskreisen der Regierung fiel die Stadt Herat am Donnerstag in die Hände der Extremisten. Zuvor hatten die Taliban die Provinzhauptstadt Ghazni erobert. Angesichts der Sicherheitslage setzten indes auch Frankreich und Dänemark Abschiebungen in das Krisenland aus. In Österreich gibt es Uneinigkeit zwischen den Koalitionspartnern in der Frage.
Herat ist die elfte Provinzhauptstadt, die innerhalb einer Woche von den Taliban erobert wurde. Sicherheitskreise in Herat erklärten: "Wir mussten die Stadt verlassen, um weitere Zerstörung zu verhindern" und bestätigten damit entsprechende Angaben der Islamisten. Der Vorsitzende des Provinzrates von Ghazni, Nassir Ahmed Fakiri, seinerseits betonte: "Die Taliban haben die Kontrolle über die wichtigsten Bereiche der Stadt erlangt." Die strategisch wichtige Stadt Ghazni liegt an einer zentralen Verbindungsstraße zwischen Kabul und Kandahar. Auch die zweitgrößte Stadt Kandahar sowie Lashkar Gah sind schwer umkämpft.
Die USA werden rund 3.000 zusätzliche Soldatinnen und Soldaten zeitweise nach Afghanistan verlegen, um die Sicherheit am Flughafen Kabul zu verstärken. Es gehe darum, die Reduzierung des US-Botschaftspersonals zu unterstützen, erklärte der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums, John Kirby, am Donnerstag. Diese könne auch die Sicherung von Konvois von und zum Flughafen umfassen, sagte er. Das US-Militär will das Land eigentlich bis Ende August verlassen. Zurückbleiben sollen dem Vernehmen nach nur einige Hundert Soldaten - vor allem um die US-Botschaft zu schützen.
Die Taliban kontrollieren inzwischen etwa zwei Drittel von Afghanistan. Von US-Geheimdiensten wird nicht ausgeschlossen, dass sie Kabul binnen 30 Tagen isolieren und binnen 90 Tagen übernehmen könnten. In den vergangenen Tagen hatten die Taliban unter anderem Kunduz und Faizabad eingenommen und belagern nun Mazar-i-Sharif. Bei einer Einnahme von Mazar-i-Sharif würde die Regierung in Kabul die Kontrolle über den Norden des Landes endgültig verlieren.
Nach Deutschland und den Niederlanden setzten am Donnerstag auch Frankreich und Dänemark Abschiebungen nach Afghanistan offiziell aus. Bereits seit Anfang Juli habe es keine Rückführungen mehr in den Krisenstaat gegeben, teilte das Innenministerium in Paris mit. Frankreich beobachte die Situation gemeinsam mit seinen europäischen Partnern genau. Das dänische Migrationsministerium erklärte, der Bitte Afghanistans nachzukommen und die Abschiebung von Asylwerbern bis 8. Oktober auszusetzen.
Dänemark hatte noch unlängst gemeinsam mit Österreich, Deutschland, den Niederlanden, Belgien und Griechenland die EU in einem Brief zu einer Fortsetzung der Abschiebungen nach Afghanistan gedrängt - trotz des Vormarsches der radikalislamischen Taliban.
In Österreich will indes das ÖVP-geführte Innenministerium in Wien weiter an Rückführungen festhalten. Die Grünen stellen sich dagegen. Der grüne Vizekanzler Werner Kogler erklärte laut Aussendung gegenüber oe24.TV, dass Abschiebungen "faktisch nicht möglich" seien "weil es für die Flieger gar keine Landeerlaubnis in Afghanistan gibt". Kogler: "Wie es in Afghanistan zugeht, ist richtig schlimm. Das hat auch Konsequenzen. Auch wenn die eine oder andere Stimme aus dem Innenministerium anderes sagt: Abschiebungen gibt es derzeit nicht nach Afghanistan." Abschiebeflüge seien auch in den nächsten Wochen "so gut wie unvorstellbar".
Für die Fortführung von Rückführungsflügen setzte sich gegenüber Ö1 der FPÖ-Abgeordnete Hannes Amesbauer ein. Für den SPÖ-Parlamentarier Reinhold Einwallner sowie NEOS-Mandatar Helmut Brandstätter hingegen sind Abschiebungen derzeit "unmöglich".
Immer mehr Länder rufen angesichts des rasanten Eroberungszugs der Taliban auch ihre eigenen Staatsbürger auf, Afghanistan zu verlassen. Die USA und Deutschland forderten ihre Bürger am Donnerstag dringend zur zügigen Ausreise auf. Das österreichische Außenamt hat bereits vor einiger Zeit eine Reisewarnung für ganz Afghanistan ausgesprochen und rät laut Website den im Land lebenden "Auslandsösterreichern und Österreichern, die sich aus anderen Gründen in Afghanistan aufhalten", "dringend" das Land zu verlassen.
Angesichts dieser Entwicklung boten Unterhändler der afghanischen Regierung den Vertretern der Taliban am Donnerstag bei Verhandlungen in Doha an, die Macht zu teilen und dafür die Kämpfe zu beenden, wie es aus afghanischen Regierungskreisen hieß. Der Friedensprozess, der im September in der Hauptstadt Katars angestoßen worden war, geht jedoch bereits seit Monaten nicht mehr voran.
Hunderttausende sind in Afghanistan bereits vor den Kämpfen geflohen. In Kabul ist in den vergangenen Tagen eine große Zahl an Vertriebenen eingetroffen, die nun zum Teil in Parks und auf öffentlichen Plätzen campieren. Der deutsche Staatssekretär Niels Annen erwartet Auswirkungen auch für die Migration nach Deutschland. "Es ist naiv zu glauben, dass der Vormarsch der Taliban und die Gewalt in der Kriegsregion keine migrationspolitischen Folgen hat", sagte Annen der Funke Mediengruppe. "Entscheidend ist nun, dass Deutschland und Europa dabei helfen, die fliehenden Menschen vor Ort in der Region, etwa in Tadschikistan, Iran oder Pakistan, aber auch in Afghanistan selbst zu versorgen. Dafür muss schnell Geld bereitstehen."