Er wäscht seine Hände in Unschuld, obwohl schon eine Menge Blut an ihnen klebt: Weißrusslands Diktator Alexander Lukaschenko hat den Jahrestag des Protestbeginns genutzt, um sich selbst in Szene zu setzen und jegliche Verantwortung für die Zuspitzung der Lage in Minsk von sich zu weisen. In einer groß angelegten Pressekonferenz sprach er von einer „vereitelten Revolution des Westens“ – obwohl im August 2020 im ganzen Land eine Protestwelle der weißrussischen Bevölkerung losbrach, die faire Neuwahlen forderte, aber nicht unbedingt einen Westkurs. Die Menschen wollten sich nicht gefallen lassen, dass Lukaschenko nach 26 Jahren an der Macht mit Tricksereien den Wahlsieg erneut an sich riss; als Wahlgewinnerin gilt Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja.
Lukaschenko fühlt sich offenbar anspruchsberechtigt auf den Präsidentensessel, aber sonst für nichts verantwortlich. Mit dem Tod des Aktivisten Witali Schischow will er nichts zu tun haben. „Wer war er für Weißrussland oder für mich? Er hat uns nichts bedeutet“, schwadronierte Lukaschenko. Der 26-Jährige war kürzlich in einem Park in Kiew erhängt aufgefunden worden. Die Opposition geht von Mord aus und wirft Lukaschenko einen „Krieg gegen das eigene Volk“ vor.
Auf die brutale Niederschlagung der Protestbewegung, auf die zahlreichen Festnahmen, auf die Folterungen und Vergewaltigungen, auf das Klima der Angst im ganzen Land ging Lukaschenko nicht ein. Erwähnt hat er allerdings die olympische Sprinterin Kristina Timanowskaja. Sie hatte sich während der Spiele in Tokio ins polnische Exil abgesetzt, nachdem sie wegen ihrer Kritik an Sportfunktionären ihres Heimatlandes gegen ihren Willen von Tokio nach Hause geflogen werden sollte. Lukaschenkos Sicht der Dinge: Die Athletin wurde vom Westen manipuliert. Die Sprinterin lässt sich davon nicht beeindrucken: Sie gab bekannt, sie lasse ihre Medaille von den Europa-Spielen 2019 versteigern, um ähnlich betroffene Sportler zu unterstützen.
Nicht aufhalten lassen von Lukaschenko will sich aber auch Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja: Sie warf Lukaschenko erneut Wahlfälschung vor und forderte die Freilassung der mehr als 600 politischen Gefangenen. Neue größere Massenproteste schloss sie aus: Der Preis dafür sei angesichts der brutalen Gewalt der Lukaschenko-Polizei zu hoch. „Die Sicherheit der Menschen muss an erster Stelle stehen“, sagte die Bürgerrechtlerin, die aus Angst vor Übergriffen auf ihre Kinder im Exil in Litauen lebt. „Es hat schon genug Opfer gegeben, zu viele zerstörte Leben“, sagte sie. Der Widerstand werde dennoch fortgesetzt, mit anderen Mitteln. Die Stärke der Oppositionsbewegung sei es, dass die Menschen in Weißrussland nicht aufgegeben hätten und die internationale Gemeinschaft mobilisiert wurde. „Manchmal habe ich Zweifel, ob ich das Richtige tue“, schreibt Tichanowskaja in einem „offenen Brief an Europa“, der kürzlich in mehreren europäischen Zeitungen veröffentlicht wurde. Doch: „Mir ist wichtig, in der Zukunft meinen Kindern sagen zu können, dass ich alles getan habe, was ich konnte.“
Im Moment sitzt Lukaschenko dank finanzieller Hilfe aus Russland fest im Sattel. Dennoch haben Tichanowskaja und die Opposition längerfristig die besseren Karten: Den Rückhalt der Bevölkerung hat Lukaschenko nach der Gewaltorgie endgültig verspielt – es gibt kein Zurück. Und auch Moskau wird eines Tages genug davon haben, das Füllhorn über einem Selbstherrlichen auszuschütten, mit dem kein Staat mehr zu machen ist. Tichanowskaja und ihr Team werden früher oder später mit dem Kreml ins Gespräch kommen müssen, um in Minsk eine neue Kraft an die Macht zu bringen.