Die belarussischen Sprinterin Kristina Timanowskaja will nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren. Zuvor wollte man die Olympiateilnehmerin von Tokio zur Rückreise zwingen, nachdem sie öffentlich Kritik an einem Sportfunktionär ihres Landes übte. Die oppositionelle belarussische Athletenvertretung "Belarusian Sport Solidarity Foundation" sprach von einer versuchten „gewaltsamen“ Ausreise, die wohl vom autoritären Regime Weißrusslands angeordnet wurde. Der Nachrichtenagentur Reuters sagte die Spitzenathletin, ihr Cheftrainer hatte die "Anweisung von oben, sie zu entfernen."
Am Flughafen bat sie die japanische Polizei um Hilfe, sie hätte Angst, zurück in Belarus in ein Gefängnis zu kommen. Inzwischen erhielt die Olympionikin ein humanitäres Visum in Polen, wohin sie in den kommenden Tagen auch reisen soll. Die angestrebte Flucht von Kristina Timanowskaja ist kein Einzelfall, wie die Vergangenheit offenbart. Immer wieder versuchten Sportler Großereignisse zu nutzen, um Kriegen bzw. gesellschaftlichen und/oder politischen Verhältnissen ihrer Heimatländer zu entkommen. Viele erhoffen sich auch verbesserte wirtschaftliche Bedingungen oder bessere Trainingsbedingungen.
Verschwundene Sportler der Vergangenheit
Das Phänomen um flüchtende Sportler ist so alt wie Großereignisse selbst. 2018 verschwanden während der letzten "Commonwealth Games" in Australien acht Athleten aus Kamerun - ein Drittel des gesamten Teams des zentralafrikanischen Staates. Wenig später tauchten weitere sieben Sportler aus Uganda, Ruanda und Sierra Leone unter, anstatt um Medaillen zu kämpfen. Schon bei der vorangegangenen Auflage der Commonwealth-Spiele in Schottland verschwanden sieben Rugbyspieler aus Uganda. Später wurde bekannt, dass sie in einem Flüchtlingsheim in Cardiff lebten, Asyl beantragt hatten und sich einem örtlichen Rugbyteam angeschlossen hatten.
In der jüngeren Vergangenheit waren es außerdem oft Sportler aus Kuba, die aus ihrer Heimat flüchteten. César Prieto, eines der größten Baseballtalente aus Kuba, setzte sich bei einem Wettkampf im April dieses Jahres in den USA spektakulär ab: Just im Moment, in dem der Mannschaftsbus am Hotel in West Palm Beach anhielt, sprintete der Kubaner los und sprang in ein wartendes Auto. Er ist einer von dutzenden kubanischen Spitzensportlern, die sich Jahr für Jahr in die USA absetzen, mit der Hoffnung auf mehr Freiheit und lukrative Profiverträge.
Weil Prietos filmreife Flucht offensichtlich geplant war, liegt der Verdacht nahe, dass Sport-Berater hinter der Aktion stecken. Auch das wäre keine Seltenheit: Sie besorgen ihren Schützlingen eine Aufenthaltsbewilligung in den USA, um sie dann in die US-Milliardenligen zu schleusen. Dass diese Fluchtversuche auch Skurrilität hervorbringen, zeigten die Panamerikanischen Spiele in Toronto 2015. Inmitten der Wettkämpfe setzte sich die halbe Hockey-Mannschaft Kubas in die USA ab. Das folgende Match musste man daher mangels Spieler in Unterzahl bestreiten: Man verlor 13:0 gegen Trinidad und Tobago.
Durch die Ostsee in den Westen
Ein regelrechter Coup gelang auch der vermeintlichen Handball-Nationalmannschaft aus Sri Lanka. 2004 folgte sie der Einladung eines deutschen Handballvereins und absolvierten ein Trainingslager in Bayern. Gerade als es auffällig wurde, wie schlecht die Trainingsgäste Handball spielten, waren sie verschwunden. Wie sich später herausstellte, gab es zu diesem Zeitpunkt gar kein Handball-Nationalteam in Sri Lanka.
Sehr viele Fälle von flüchtenden Sportlern sind auch aus der Zeit des Ost-West-Konflikts bekannt. Damals versuchten Athleten aus dem Ostblock in die westliche Welt zu flüchten, allein zwischen 1952 und 1989 wurden 615 Fälle von Sportlerfluchten aus der DDR vom Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) gezählt. Dabei wurden vorwiegend Wettkämpfe im Ausland dazu genutzt, um sich aus der Heimat abzusetzen. War man zu schlecht oder zu wenig linientreu für den Reisekader, musste auf andere Fluchtwege zurückgegriffen werden. Der ehemalige Schwimmer Axel Mitbauer sprang 1969 auf der Fahrt zur Ostsee aus dem fahrenden Zug, um seine Stasi-Begleiter loszuwerden. Im Anschluss schwamm er 22 Kilometer durch die Ostsee Richtung Westen. Nach seiner erfolgreichen Flucht verschärfte die Stasi die Überwachung der Spitzensportler.
Simon Rothschedl