Das Jahr, in dem ich mich zum ersten Mal als Europäerin fühlte, war 1956. Der beste Freund meines im Krieg gefallenen Vaters, ein Engländer, hatte mich eingeladen, die großen Ferien bei ihm und seiner Frau in Yorkshire zu verbringen. Damals gehörte England noch nicht zu Europa, sondern war eine Insel in “splendid isolation“. Uncle John sorgte dafür, dass ich Mädchen in meinem Alter kennenlernte und natürlich auch deren Eltern und Bekannte.
Mir wurde bald klar, dass man den Krieg und seine Zerstörungen noch nicht vergessen hatte. Manche Engländer wechselten den Gesichtsausdruck, wenn sie erfuhren, aus welchem Land ich kam. Daher gewöhnte ich mir an, „from Europe“ zu sagen, wenn ich gefragt wurde, woher ich sei. Meist gaben sich die Frager damit zufrieden, und so wurde Europa mit einem Mal Realität für mich, Realität im Sinne eines Schutzmantels, unter den ich kriechen konnte, auch wenn er mich vor nichts anderem schützte als vor einer Zuordnung, für die ich mich als Fünfzehnjährige schämte.
Als es dann Mitte der 1990er Jahre wirklich ernst wurde mit der EU, war ich eindeutig dafür und erhoffte mir eine Politik der Trockenlegung von Sümpfen, wie Bundespräsident Rudolf Kirchschläger Korruption und Rassismus zu nennen pflegte.
Ein paar Monate vor dem Beitritt Österreichs rief mich Ernst Jandl an und fragte, ob ich mich an einer Anzeige pro EU, die sowohl im „Standard“ als auch in „Die Presse“ erscheinen sollte, beteiligen würde. Allerdings müssten wir dafür zahlen. Der Anzeigen-Text lautete so: „Wir österreichischen Architekten, Komponisten, Künstler, Musiker und Schriftsteller fordern ein Vereintes Europa. Wir stimmen am 12. Juni 1994 mit Ja!“ Darunter standen folgende Namen: Friedrich Achleitner, Heimrad Bäcker, Paul Flora, Barbara Frischmuth, Hans Hollein, Ernst Jandl, Alfred Kolleritsch, Friederike Mayröcker, Gustav Peichl, Gerhard Rühm und Max Weiler.
Ich habe es nie bedauert, dass wir damals dafür gestimmt haben, auch wenn sich die EU nicht immer von der besten Seite gezeigt hat. Eine der größten Fahrlässigkeiten war wohl die allumfassende Einstimmigkeit. Und genau hier setzt mein Wunschdenken ein. Dass einzelne Mitgliedstaaten und deren illiberale Demokraten (besser gesagt Autokraten) die EU erpressen können und das gelegentlich auch tun, ist schwer zu akzeptieren. Das rücksichtsloseste, wenn auch nicht einzige, diesbezügliche Land, ist Ungarn beziehungsweise sein Ministerpräsident Viktor Orbán. Manchmal fühle ich mich dabei geradezu persönlich betroffen.
Ich hatte mich Anfang der 1960er Jahre für Ungarisch als zweite Sprache entschlossen und studierte 1963/64 als erste Stipendiatin aus dem Westen eineinhalb Jahre an der Lajos-Kossuth-Universität in Debrecen. Ich war fasziniert von der ungarischen Literatur. Ich lernte viele interessante und hochbegabte Menschen kennen, darunter Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Einige habe ich später auch ins Deutsche übersetzt.
Damals hatte ich das Gefühl, dass niemand so sehr zu Europa gehören wollte wie die Ungarn. Man durfte nicht einmal Osteuropa sagen, wenn man die Lage Ungarns geografisch orten wollte. Ungarn sei ein mitteleuropäisches Land, wurde mir erklärt. Bereits 1956 waren viele Ungarn durch Österreich in andere Länder des westlichen Europas geflüchtet, und zu der Zeit, da ich in Ungarn studierte, wollten gar nicht so wenige nachkommen.
Ungarn und die anderen Visegrád-Staaten hatten sich wohl unter der EU etwas anderes vorgestellt. Nach zwei Weltkriegen und zehn Jahren Sowjetunion wollten sie endlich frei sein, in einem souveränen Staat, der für sich selbst entscheiden kann. Und eben diese Freiheit wird von Politikern wie Orbán missbraucht, und das im Sinne von: Freiheit ja!, aber nur nach dem Gutdünken (oder sollte ich eher sagen: Schlechtdünken) des Machthabers, der keinen Widerspruch duldet. Eines der ersten offensichtlichen Symptome ist dabei fast immer das Ausschalten einer unabhängigen Presse.
Mein Wunsch an die EU wäre in diesem Fall eine umfassendere Kontrolle der Verteilung von Geldern, die Ungarn von der EU erhält, und das nicht zu knapp.
Ein weiterer Wunsch gilt der ungeheuren Verschwendung von Lebensmitteln, die wohl auch den vielen Regulierungen durch überzogene Hygiene-Verordnungen und Überproduktion geschuldet ist. Wie Wissenschaftler festgestellt haben, landet ein Drittel aller produzierten Nahrungsmittel im Abfall. Das sollte uns mehr ängstigen als Corona. Wenn aber weltweit nicht mehr genügend Nahrungsmittel erzeugt werden können, weil die Böden austrocknen und die Schädlinge der riesigen Menge von Chemikalien wegen immun werden, was geschieht dann?
Auch da wünschte ich mir, die EU würde sich weniger von Lobbyisten die Ohren vollsäuseln lassen und mehr auf Wissenschaftler hören als auf sogenannte Experten, die sich für Studien von weltmächtigen Konzernen bezahlen lassen.
Dass die Aufnahme von Asylsuchenden von der Regierung torpediert wird, lässt mich an ihr zweifeln. Wie kann man junge Menschen, die unsere Sprache erlernt haben, gut integriert und ausgebildet sind, und die man in bestimmten Branchen brauchen würde, abschieben, statt über ihre Qualifikationen froh zu sein. Für mich ist das unverständlich. Da es dabei nicht einmal um Geld geht, bleibt zur Erklärung nur Rassismus. Ein Indiz dafür scheint mir, dass man, oft gegen den Willen der Bevölkerung, Menschen in ihre Länder zurückschickt, aus denen sie gewiss nicht ohne Grund geflüchtet sind. Und das obwohl sich Bürgermeister und Bewohner dafür einsetzen, diese Asylsuchenden in ihrer Gemeinde zu haben, weil man mit ihnen gute Erfahrungen gemacht hat.
Der EU ist es nicht gelungen, die Mehrheit der Staaten davon zu überzeugen, dass man mit Migration nur dann klarkommen kann, wenn man nicht bloß ihre sogenannten negativen Seiten an den Pranger stellt, sondern auch ihre guten Seiten zur Kenntnis nimmt und als Gesellschaft davon profitieren kann.
Mir ist klar, dass man nicht alle, die nach Europa wollen, aufnehmen kann. Aber gerade da wäre es wichtig, den Menschen rasch Bescheid zu geben, ob sie bleiben können oder nicht. Dass man sie ewig hinhält und oft erst nach vielen Jahren rausschmeißt, ist Sadismus.
Wer oder was immer schuld daran ist, dass es zu solchen Tragödien kommt, es wäre Sache der EU, eine EU-weite lebensgerechte Regelung des Umgangs mit Asylsuchenden zu erstellen.
Was mir erst recht Sorgen macht, ist eine Art europäischer Kolonialismus, der mit riesigen Flächen industrialisierter Landwirtschaft aufkommt sowie mit Urwäldern, die angeblich unter dem Schutz der EU stehen, jedoch laut einer deutschen Dokumentation namens „Wald-Gold“ illegal gerodet werden. Angeblich werden in Rumänien von meist deutschen und österreichischen „Einkäufern“ Flächen und Holz um billiges Geld und in riesigen Mengen gekauft.
Förster, die sich gegen illegale Rodungen gestellt haben, wurden verprügelt, einige haben sogar ihr Leben gelassen. Zynischer Weise wird das Ganze in Umweltfreundlichkeit verpackt, damit wir guten Gewissens unsere hölzernen Bio-Häuser bauen können. Die Arbeiter hingegen, die man sich um Mindestlöhne für die Rodungen holt, willigen ein, weil sie und ihre Familien sonst kaum überleben können.
Wenn das alles tatsächlich so verlogen ist, wie es klingt, wünsche ich mir, dass die EU mit scharfen Kontrollen eingreift, schließlich ist sie verpflichtet, für Menschenrechte und Klimaneutralität einzustehen. Ich weiß, dass die EU andauernd vor großen Herausforderungen dieser Art steht, aber ihre Bewohner ebenso. Es bedarf einer großen Hartnäckigkeit, um all diese (wie ich meine) Verfehlungen im Auge zu behalten und zu bekämpfen. Aber es gibt bereits viele, die sich dafür interessieren und engagieren, und die nicht aufgeben werden, Lösungen für diese Probleme zu fordern – von unserer Gesellschaft, unseren Ländern und der Europäischen Union.
*Der vorliegende Essay von Barbara Frischmuth ist mit freundlicher Genehmigung der Autorin dem Sammelband „Reset Europe: Impulse für die Zukunft Europas“ entnommen, der in der Edition Geist & Gegenwart im Rahmen des heurigen Pfingstdialogs in Seggau im Wieser Verlag erschienen ist.
Barbara Frischmuth