Herr Außenminister, die nächste Coronawelle rollt an. War’s das mit dem versprochenen Sommer wie damals?
ALEXANDER SCHALLENBERG: Nein. Eines ist aber klar: Die Pandemie ist nicht vorbei. Wir alle wollen keine Lockdowns und Beschränkungen der Reisefreiheit mehr. Dafür gibt es nur ein Exit-Szenario: die Impfung. Es würde an Absurdität grenzen, wenn wir es in Europa, wo im Unterschied zu vielen Weltregionen quasi jeder Zugang zu einem Impfstoff hat, nicht schaffen, diesen Spuk zu beenden, nur, weil wir keine ausreichend hohe Impfquote erreichen.
Sind Sie für eine Impfpflicht?
Nein, das wäre nicht zielführend. Man muss überzeugen. Es geht es nicht nur um die eigene Gesundheit, sondern auch um die der Mitmenschen.
Jede dritte Infektion geht auf Urlaubsrückkehrer zurück. Warum ergreift die Regierung keine härteren Maßnahmen dagegen?
Es gibt jetzt verpflichtende Gurgeltests am Flughafen für nicht vollimmunisierte Reiserückkehrer aus Spanien, Zypern und den Niederlanden. Bei den Erstimpfungen haben wir über 65 Prozent erreicht, knapp 55 Prozent sind vollimmunisiert. Das müssen noch mehr werden. Im Vorjahr hat sich gezeigt, dass Grenzschließungen nur bedingt nützlich gegen ein Virus sind.
Die Pandemie wäre für die EU die Gelegenheit gewesen, die Überlegenheit einer staatenübergreifenden Gemeinschaft zu beweisen. Warum wurde die Chance vertan?
Das sehe ich nicht so. Nach nationalen Schrecksekunden, als die Rollbalken runtergingen und die Kettenbrücken hochgezogen wurden, hat sich schnell das Europa der Solidarität gezeigt. Wir haben uns wechselseitig bei der Behandlung von Intensivpatienten geholfen und bei der Impfstoffbeschaffung zusammengearbeitet ...
... die in ein Debakel mündete!
Man hat Fehler in der öffentlichen Darstellung gemacht, auch in Brüssel. Zu hohe Erwartungen wurden geschürt. Aber ich sehe das Glas halb voll, nicht halb leer. Dass 27 Staaten, von denen wohl noch jetzt jeder einzeln mit den Pharmafirmen verhandeln würde, die EU-Kommission damit beauftragt haben, war goldrichtig. Wir haben zeitgleich mit 750 Milliarden Euro das größte Finanzpaket in der Geschichte der europäischen Integration geschnürt. Von mir werden sie keine Kassandrarufe hören. Ich bin sicher, dass wir eines Tages sagen werden, Europa hat diese Krise gut gemeistert. Auch als Gesellschaft haben wir uns als resilienter und flexibler erwiesen, als wir dachten.
Hat Corona Europa verändert?
Ich hoffe es! Vielleicht hat das Virus unser Sensorium dafür geschärft, dass alles, was wir als selbstverständlich empfinden, nicht selbstverständlich ist. Das reicht bis zu den persönlichsten Freiheiten, die wir jetzt bewusster wahrnehmen, weil sie eben nicht gottgegeben sind.
Wenn man Ihnen zuhört, könnte man fast meinen, das Virus habe in Europa nur Gutes bewirkt.
Das Virus hat uns Europäer zunächst auseinandergerissen. Es war wie bei einem Zimmerbrand, wo sich jeder erst einmal selbst in Sicherheit bringt, ehe er dem Nachbarn hilft. Das kann man gut oder schlecht finden, aber so ist der Mensch.
Der Trend zur Priorisierung nationaler Interessen war aber schon vor der Pandemie unübersehbar. Zerbröckelt die EU?
Das ist kein aktueller Trend, das gab es schon immer. Denken wir nur ans Scheitern der Verteidigungsunion 1954 am Widerstand des französischen Parlaments oder an de Gaulles Politik des leeren Stuhles, die 1965/66 fast die Union zum Stolpern brachte, oder seine Vetos gegen den britischen Beitritt. Denken wir an die Eurosklerose der Siebziger. Wir sind manchmal geschichtsvergessen und blicken nie weiter zurück als bis zur Eurokrise 2008. Wenn man sich aber die gesamte Integration anschaut, gab es Phasen der Beschleunigung und solche des Stillstands. Wir erleben nun eine Phase, in der auch Österreich wohlverstandene Eigeninteressen gezielt vorbringt, sich aber auch auf europäischer Ebene enorm viel tut.
Von den Vereinigten Staaten von Europa redet kaum noch wer. Ist dieser Traum ausgeträumt?
Ich war 2003 Teil der österreichischen Delegation zum Konvent, der unter Vorsitz von Valéry Giscard d’Estaing eine Verfassung für Europa erarbeitet hat. Die ist aber nie in Kraft getreten. Träumen kann man immer. Aber man muss zwischen dem unterscheiden, was praktikabel und sinnvoll und dem, was ein Traum ist. Im EU-Vertrag steht „eine immer engere Union“. Diese jahrzehntealte Formel wurde von den Bürgern zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich gelebt, aber nie ins Gegenteil verkehrt.
Verschiebt sich das gerade?
Wir sind realistischer geworden. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs gab es das Gefühl, die ganze Welt werde nolens volens europäischer. Darauf folgte das Erwachen, dass die Welt nicht so ist, wie wir sie uns erträumen, und Erdogan, Putin und Xi nicht darauf warten, dass wir sie mit unseren Standards beglücken, sondern andere Wege gehen. Nüchternheit ist eingekehrt. Sie tut uns gut. Sie zwingt die EU, um mit Ursula von der Leyen zu sprechen, das geopolitische Alphabet zu erlernen, das hart sein kann. Das geht nicht von heute auf morgen, aber wir machen große Fortschritte.
Bereitet Ihnen die wachsende Kluft zwischen Ost und West in der Europäischen Union Sorge?
Ich halte sie sogar für die größte Bedrohung, denn es wäre katastrophal, wenn sich das Gefühl verstärkt, dass es Mitglieder erster und zweiter Klasse gibt. Die einen sind die Schmuddelkinder, die im Eck stehen und sich erst beweisen müssen, während die anderen sich alles leisten können, weil sie in Latein einen Einser haben. Das geht sich nicht aus. Wir sind immer noch im Verdauungsprozess der Erweiterungen von 2004 und 2007. Wir waren damals vielleicht zu naiv und dachten, das wird in wenigen Jahren erledigt sein. Aber die Transformation ist lang und schmerzhaft. Deshalb halte ich Wortmeldungen wie die des luxemburgischen Außenministers, man solle über einen Ausschluss Ungarns abstimmen, für überflüssig und undurchdacht. Er weiß genau, das ist reinster Populismus!
Wäre es denkbar, dass Jean Asselborn Viktor Orbán in gleichem Maß für seine Selbstinszenierung benötigt, wie Orbán Asselborn?
Ich fürchte, Sie haben recht. Das ist für mich aber auch ein Beweis für einen üblichen politischen Diskurs. Noch vor 15 Jahren hieß es, es gebe keine politischen Debatten, die ganz Europa erfassen. Jetzt haben wir sie laufend – von der Migration über die Pandemie bis zum Recovery-Fonds und von Dublin bis Athen. Manchmal ziehen sie sich auch parteipolitischen Grenzen entlang. Wir machen nur den Fehler, die EU immer noch durch das diplomatische Prisma zu sehen. Dabei ist es oft nicht anders, wenn in Österreich ein Landeshauptmann dem anderen oder Wien etwas ausrichtet. Sagt ein Vertreter eines Staates das eine und der Vertreter eines zweiten das andere, wird es gleich als diplomatischer, uneuropäischer Konflikt gesehen.
Ist Viktor Orbán eine Bedrohung für das gemeinsame Europa?
Es bräuchte sehr viel mehr als einen Viktor Orbán, um die EU zu sprengen. Mit seinem LGBTIQ-Gesetz hat er den Bogen eindeutig überspannt und eine rote Linie überschritten. Dass 17 Staats- und Regierungschefs einen offenen Brief schreiben, hat eine neue Qualität. Aber da Ungarn es in der Vergangenheit, zuletzt bei der NGO-Gesetzgebung, verstanden hat, am Schluss den richtigen Schritt zu setzen, hoffe ich, dass Budapest das auch diesmal so handhaben wird. Was jedenfalls dringend nottut, ist aktiv den Dialog zu suchen. Das kommt zu kurz. Wenn wir uns nur noch mit dem Megafon über die Grenzen Vorwürfe entgegenschleudern, würde ich mir Sorgen über die gemeinsame europäische Zukunft machen. Österreich hat das 2000 auch erlebt. Es ist nicht angenehm, in solchen Situationen auf der Empfängerseite zu stehen. Wir sollten daher vorsichtig sein und nicht gleich den Stab über andere brechen. Letztlich geht es nicht nur um Ungarn. Kein Staat ist perfekt bei den Grundrechten. Jede Generation muss sie mit neuem Leben erfüllen. Da sind wir in der EU gerade dabei. Es ist fast wie ein faustisches Prinzip: Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.