Es sind keine guten Tage für Afghanistan. Nach 20 Jahren ziehen sich die Nato-Truppen unter US-Führung zurück, doch was ein Schritt zu mehr Selbstständigkeit Afghanistans sein könnte, führt derzeit ins Chaos. Dazu kommen tragische Vorfälle im Westen: In Österreich etwa sorgt nach dem Mord an der 13-jährigen Leonie erneut die Frage der Abschiebungen nach Afghanistan für Debatten. Die Regierung in Kabul bat die europäischen Staaten vor Kurzem, Abschiebungen nach Afghanistan für drei Monate ganz auszusetzen. Ihre Begründung: Wegen der zunehmenden Gewalt der militant-islamistischen Taliban und steigender Corona-Infektionen sei die Rückführung abgelehnter Asylbewerber derzeit ein Grund zur Sorge, hieß es in einer Erklärung.
Das sorgt für Unmut. „Dass die Taliban in Afghanistan präsent sind, ist ja keine neue Situation“, erklärte Außenminister Alexander Schallenberg; Österreich will an den Abschiebungen von Asylwerbern mit negativem Bescheid festhalten.
Afghanistan-Experten wie Magdalena Kirchner,Politologin und Leiterin des Afghanistan-Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul, sehen die Lage differenziert. Die Regierung in Kabul habe nicht nur um einen Abschiebestopp gebeten, sondern auch die Rücknahme ausgesetzt. „Es gibt von afghanischer Seite im Moment niemanden, der Abgeschobene entgegennimmt“, so Kirchner.
Tatsächlich habe sich die Sicherheitslage seit dem Abzug der Nato-Truppen und den neuen Offensiven der Taliban in den letzten Wochen so verschärft, dass auch Orte, die bisher als vergleichsweise sicher galten, von den Taliban überrannt wurden. Beinahe täglich verschieben sich die Fronten. Das sieht auch Thomas Ruttig, Co-Direktor der Forschungsorganisation Afghanistan Analysts Network, ähnlich: „Zum einen ist die Zahl der Anschläge fast fünf Mal so hoch wie vor einem Jahr“, sagt Ruttig.
Betroffen sind auch zivile Einrichtungen wie Schulen, Märkte oder Krankenhäuser. „Zum anderen rücken die Taliban bedrohlich an die Großstädte heran.“ Die Islamisten haben seit Beginn des Abzugs bereits große Teile des Landes erobert. Bedroht sind Einheimische wie Rückkehrer: Schon vor dem Nato-Abzug galt Afghanistan als das Land mit der höchsten Anzahl ziviler Kriegsopfer weltweit.
Zu schwach
Beobachter befürchten, dass die Taliban nach dem vollständigen Abzug der USA und ihrer Nato-Partner wieder die Macht übernehmen könnten. Anschläge wurden zuletzt aber auch von der Terror-Miliz „IS“ verübt. Die Truppen der Zentralregierung sind zu schwach, um ihnen ohne Nato-Unterstützung ausreichend entgegenzusetzen.
Kirchner wie Ruttig weisen darauf hin, dass durch die Taliban-Offensive gerade neue Fluchtbewegungen entstehen. „Die Unsicherheit, wie es nach dem Nato-Abzug weitergeht, ist bei der afghanischen Regierung und in der Bevölkerung sehr hoch“, sagt Magdalena Kirchner. „Wer kann, versucht seine Familie aus den jetzt neu umkämpften Orten in Sicherheit zu bringen.“ Es gebe einen großen Anstieg von Binnenflüchtlingen, auch die Migration in die Nachbarländer nehme zu. „Aus meiner Sicht gibt es in Afghanistan keine sicheren, sondern nur verschieden unsichere Gebiete“, erklärt Thomas Ruttig. In den letzten beiden Monaten habe sich die Lage erheblich verschärft, weil sich die Fronten so rasch und schwer vorhersehbar verändern.
Viele neue Binnenflüchtlinge
Nach UNO-Daten mussten zwischen Anfang Mai und Ende Juni fast 84.000 Menschen innerhalb Afghanistans vor den Kämpfen aus ihren Dörfern und Städten fliehen. Völlig unklar sei derzeit auch, wie künftig Schlüsseleinrichtungen wie der Flughafen von Kabul abgesichert werden sollen – „und dort kommen Abgeschobene schließlich an,“ so Ruttig. Die Lage sei wirklich verzweifelt, sagt der Experte. Seit 40 Jahren herrsche in Afghanistan Krieg – und der habe die Lebensgrundlage vieler zerstört.
Dazu kommt, dass Rückkehrer aus Europa nicht unbedingt mit offenen Armen aufgenommen werden. „Jeder, der im Verdacht steht, Geld zu haben – selbst wenn er gar keines hat –, ist in Gefahr, überfallen zu werden.“ Vereinzelt höre er diesbezüglich auch von Todesfällen.
Die Afghanistan-Expertin und Soziologin Friederike Stahlmann vom Max Planck Institut für Anthropologie dokumentierte in einer Studie die Erfahrungen von 113 der 908 Afghanen, die zwischen Dezember 2016 und März 2020 aus Deutschland abgeschoben worden waren. Nahezu alle erlebten bei der Rückkunft Gewalt, weil sie von den Taliban beschuldigt wurden, mit der Flucht „zum Feind übergelaufen“ zu sein oder wegen europäischer Lebensweise den Islam verraten zu haben. Da auch ihren Familien Gefahr drohte, gerieten viele Rückkehrer in soziale Isolation, was in einem Land mit großer Armut und ohne soziales Netz auch bedeutet, dass sie wenig Chance haben, ihre Existenz zu sichern.
Nicht das einzige Mittel
Abschiebungen stehen angesichts der schlechten Sicherheitslage sowohl Ruttig als auch Kirchner zum jetzigen Zeitpunkt skeptisch gegenüber; Abschiebungen in Kriegsgebiete entsprechen nicht unseren Gesetzen, meint Ruttig. „Der Fall Leonie ist grauenhaft und sehr traurig, und selbstverständlich müssen Straffällige gerichtlich verurteilt und bestraft werden“, sagt Kirchner. „Aber Abschiebungen sind in unserem Rechtsstaat dafür ja nicht das einzige Mittel.“
Schweden, Finnland und Norwegen gingen nun auf den Wunsch der Regierung in Kabul ein, sie setzten die Abschiebungen nach Afghanistan vorübergehend aus. Die Aussetzung bedeute nicht, dass die Betroffenen automatisch dauerhafte Aufenthaltsgenehmigungen bekämen. Deutschland prüft die Sicherheitslage und hält einstweilen, wie Österreich, an den Abschiebungen fest.