Am Nationalstadion im Zentrum Tokios hat während der Olympiavorbereitungen ein großes Banner gehangen: „Lasst uns den Traum von 1964 noch einmal erleben!“ „Tokyo 2020“, wie die Spiele nach der pandemiebedingten Verschiebung um ein Jahr weiterhin genannt werden, soll an ein großes Erbe anknüpfen. Als die japanische Hauptstadt Mitte der 1960er Jahre erstmals Olympia veranstaltete, wirkte das Sportereignis wie ein Befreiungsschlag. Mit der Magie des Sports, so dokumentieren es Geschichtsbücher heute, haben man endlich die Wehen des Krieges überwunden.

Im Sommer 1945, 19 Jahre zuvor, war der Zweite Weltkrieg verheerend geendet. Die Atombomben über Hiroshima und Nagasaki hatten in der Menschheitsgeschichte bis dato ungesehene Verwüstungen angerichtet. Fast alle anderen Großstädte waren durch Luftangriffe zerstört worden, Tokio inklusive. 1964 dann strahlte ein wiederaufgebautes Japan. Der Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen raste atemberaubend schnell durchs Land, Tokio prahlte mit modernen Hotels und Flughäfen. Die Wettkämpfe wurden erstmals live per Satellit in die ganze Welt übertragen.

Auch die sportlichen Leistungen trugen dazu bei, dass sich Japan in den Köpfen der Menschheit als führende Nation etablierte. Im Medaillenspiegel belegte das Land hinter den USA und der Sowjetunion Platz Drei. Und weil die ersten Spiele auf dem asiatischen Kontinent als großer Erfolg galten, erhielten japanische Städte fortan immer wieder das Austragungsrecht. Acht Jahre später kamen die Winterspiele nach Sapporo. 1998 waren sie in Nagano. Und nun, nach gut 20 Jahren, ist Japan erneut Gastgeber. Häufiger haben nur die USA und Frankreich die Spiele veranstaltet.

"Wiederaufbauspiele"

Wenn am nächsten Freitag die Olympischen Spiele in Tokio eröffnen, wird sich die Öffentlichkeit im ostasiatischen Land vor allem an 1964 orientieren. Nicht nur wegen des oft im Fernsehen gezeigten Plakats am Nationalstadion, das übrigens eine renovierte Version des schon damals genutzten Olympiastadions ist. Die Veranstalter bemühen sich in weiteren Parallelen. „Tokyo 2020“ nennen sie „fukkou gorin“ – die „Wiederaufbauspiele.“

Einmal mehr soll Olympia der ökonomischen Erholung dienen. Diesmal insbesondere in Tohoku, dem Nordosten Japans, der 2011 durch eine Dreifachkatastrophe aus Erdbeben, Tsunami und Atomreaktorgau in großen Teilen zerstört wurde. Für die Erholung sollen Bauprojekten stehen und insgesamt sechs Soft- und Baseballspiele in von der Atomkatastrophe gebeutelten Präfektur Fukushima. Wird es dieses Versprechen sein, das die nach 2021 verschobenen Spiele – abgesehen von der Pandemie – überdauern wird?

Krisenmodus

Im Moment spricht wenig dafür. Auch in Fukushima ist die Mehrheit der Menschen mehrheitlich gegen die Austragung der Spiele, nicht zuletzt, weil sie sich nach der Katastrophe vor zehn Jahren mehr Unterstützung erhofft hatten. Auch wegen der hohen Bauaktivität in Tokio konnten Turnhallen und Einkaufszentren, die im zerstörten Nordosten gebaut werden sollten, nicht fertiggestellt werden. Und der seit Beginn der Pandemie vor eineinhalb Jahren anhaltende Krisenmodus erinnert ohnehin kaum an die Erfolgsspiele 1964. Unangenehme Parallelen zu den weitgehend vergessenen Spielen von 1940 werden offenbar.

Zum ersten Mal das olympische Austragungsrecht gewann Japan schon 1936. Im Februar 1940 sollten in Sapporo, auf der Nordinsel Hokkaido, die Winterspiele steigen. Im September dann die Sommerspiele in Tokio. Alles war als Jahr für die Geschichtsbücher geplant: In der Hauptstadt war denn auch noch die Weltausstellung vorgesehen. All diese Feste, so der Gedanke, würden das 2.600-jährige Bestehen des japanischen Kaiserreichs markieren.

Pferde für die Kavallerie

Es kam anders. Nachdem Japan schon 1931 Teile Ostchinas besetzt hatte, brach 1937 ein Krieg aus. Schnell wurde er teurer als erhofft. 1938 meldete das Militär den Olympiaveranstaltern, dass man die für die Wettkämpfe eingeplanten Pferde in der Kavallerie brauche. Und das Metall, aus dem das Stadion gebaut werden sollte, leitete man in die Waffenproduktion um. 1938 gab Tokio das Austragungsrecht zurück. Man wählte den Krieg über den Sport. Bei den ersten Olympischen Spielen nach dem Krieg, 1948 in London, waren japanische Athleten, genau wie deutsche, ausgeschlossen.

„Tokyo 1940“ ist das dunkelste Kapitel der japanischen Olympiageschichte. So dunkel, dass es in der heutigen Geschichtsschreibung japanischer Museen und Lehrbücher praktisch nicht stattfindet. Wohl auch um dies so beizubehalten, erinnern die Veranstalter und die Regierung heute immer wieder an die Bilder von 1964. Dabei war selbst damals nicht alles glänzend.

Höllischer Gestank

Zeitzeugen erinnern sich daran, dass die Pläne, das Sportevent zu veranstalten, im Voraus umstritten waren. Für die Bauprojekte mussten Menschen ihre Wohnungen räumen. Außerdem war Tokio keineswegs die saubere und gut organisierte Metropole von heute. Torsten Weber, Historiker vom deutschen Institut für Japanstudien in Tokio, schreibt von „toxischer Verschmutzung, betäubendem Lärm und höllischem Gestank in der Stadt wegen des starken Verkehrs und des schlechten Abwassersystems.“

Untergrund-Shopping

Acht Jahre später, 1972 in Sapporo, sollte das schon anders aussehen. Japan war mittlerweile die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die wachsende Millionenstadt auf der Nordinsel Hokkaido baute vor den Winterspielen die ersten Abschnitte seines U-Bahnsystems, außerdem eine größere Untergrundshopping und -passage, um in den kalten Wintern das Leben außer Haus erträglicher zu machen. In Sapporo wurde erstmals in Wintersportanlagen von internationalem Rang investiert.

Die Skisprunganlagen Okurayama und Miyanomori dienten danach für Weltcups. Andere stellten sich jenseits der Großevents als unbeliebt heraus. Für die Bobbahn gab es keine rechte Verwendung, 20 Jahre später riss man die mittlerweile rostige Anlage wieder ab. Dafür gilt Sapporo heute als Geburtsort einer Wintersportnation. Nach einer einzigen Goldmedaille 1972 im Skispringen waren Medaillengewinne fortan zumindest keine Überraschung mehr.

1998 in Nagano holte das Land fünf davon. Sportlich gesehen waren die dritten Olympischen Spiele damit ein historischer Erfolg für Japan, der fortan unerreicht geblieben ist. Unter der Oberfläche sah es weniger gut aus. Der Skiboom, den die Spiele von Sapporo ausgelöst hatten, war längst abgeflaut. Und dieser Trend reicht bis heute. Das Nihon Keizai Shimbun, die auflagenstärkste Wirtschaftstageszeitung der Welt, schrieb Anfang 2021: „Japans Skiresorts befürchten eine Abfahrt bis nach ganz unten.“

Die Spiele von Nagano, die als große Party inszeniert wurden, überspielten dies im großen Stil. In den späten 1990er Jahren steckte Japan eigentlich längst in einer Wirtschaftskrise, nachdem die Zentralbank acht Jahre zuvor durch eine abrupte Anhebung des Leitzinses eine Spekulationsblase hatte platzen lassen. Das Geld, das in Nagano ausgegeben wurde, war eigentlich gar nicht mehr da.

Um die Spiele in die japanischen Alpen zu holen, hatten die Bewerber die Offiziellen des IOC mit Millionen bestochen. Dagegen wirkte selbst die Bestechungsaffäre um Salt Lake City, Gastgeber 2002, plötzlich nicht mehr so groß. Die Unterlagen, die die Bestechung dokumentiert hatten, wurden aber kurzerhand verbrannt.

Auch dies sind Parallelen, an denen die besser informierten Menschen in Japan dieser Tage denken, wenn sie die in der Hauptstadt allgegenwärtigen Plakate von „Tokyo 2020“ sehen. Das Tokioter Bewerbungskomitee für 2020 steht seit Jahren unter dem Verdacht, sich das Austragungsrecht erkauft zu haben. Dies zeigen Ermittlungen der französischen Staatsanwaltschaft. Und nachdem das Austragungsrecht gesichert war, ist auch nicht gespart worden. Das Budget für die Spiele hat sich seit der erfolgreichen Bewerbung vervielfacht. Wie hoch die finanziellen Kosten am Ende sein werden, ist auch wegen der Pandemie noch ungewiss.

Dabei wird es nicht wenige in Japan geben, die über all dies hinwegsehen können. Zwar ist ein Großteil der Bevölkerung im Land gegen die Spiele von Tokio. Zugleich ist der Patriotismus im Land weiter stark. Gut möglich, dass sich dieses Gefühl, sich mit der Welt zu messen, in den Vordergrund drängen wird, wenn die Spiele erst laufen. Und dann wird es an Museen, Lehrplänen und Massenmedien liegen, wie „Tokyo 2020“ erinnert wird.

Wobei die negativen Seiten wohl kaum in den Vordergrund gedrängt werden. Die fünf größten Tageszeitungen, die jeweils auch einen TV-Kanal besitzen, gehören allesamt zu den Sponsoren der Tokioter Spiele. Und Ex-Premierminister Shinzo Abe, der letztes Jahr offiziell aus gesundheitlichen Gründen zurücktrat, aber zuletzt auffällig häufig öffentlich auftritt, sagte die letzten Tage: Wer gegen die Olympischen Spiele sei, sei gegen ganz Japan.