Für Tausende in England begann der „Freedom Day“ genau um 00.01 Uhr in der Nacht auf Montag – als nach 16 Monaten Lockdown die Discos und Clubs des Landes ihre Tore wieder öffnen durften. Konfetti-Regen zum „Neubeginn“. Einige Besucher erklärten, dass ihnen „etwas mulmig“ sei im dichten Gedränge. Andere feierten schlicht, was ihnen „so lange gefehlt“ hatte.
Dass nun eine „gewisse Normalität“ wieder Einkehr halte und erneut ein Leben physischer Nähe, „ohne Maskerade“, möglich werde. Diese Nacht, so viel war klar, hatten sich viele erträumt.
Stunden später, als in der Schwüle des Morgens sich die ersten Leute auf den Weg zur Arbeit machten, war die Stimmung gedämpfter. In Londons Bussen und Bahnen war weiter „Maskerade“ gefragt.
Kommentar
Trotz
Einige Passagiere hatten sich die Maske aber trotzig unters Kinn geschoben. Vielerorts herrschte Verwirrung darüber, was die „neuen Regeln“ denn nun genau besagten. Kein Wunder: Boris Johnson hatte die Verantwortung beim Kampf gegen die Pandemie zum 19. Juli „den Bürgern selbst“ zugeschoben. „Freedom Day“ war der Tag, an dem der Premier Englands Corona-Einschränkungen einfach in aller Form beenden wollte. Nur um die Leute gleichzeitig aufzufordern, von nun an „bitte, bitte vorsichtig zu sein“.
Diese Mahnung zur Vorsicht ist durchaus begründet. England ist das erste Land, das fast alle Vorsichtsmaßnahmen abschafft, während die Infektionszahlen steil ansteigen. Schon jetzt werden täglich 50.000 neue Fälle gemeldet. Im August, hat der prominente Covid-Experte Neil Ferguson vom Imperial College London gewarnt, könnten es 100.000 bis 200.000 sein. 2.000 Klinik-Neuzugänge pro Tag hält Ferguson in diesem Sommer ebenfalls für möglich.
Das wären zwanzig Mal so viele wie noch vor vier Wochen – und drei Mal so viele wie im Augenblick. Andererseits, argumentiert die Regierung, wäre es nicht einmal die Hälfte dessen, was die Briten im Jänner erlebten, auf dem Höhepunkt der damaligen Krise im Vereinigten Königreich. Denn für Johnson hat die „heroische Impf-Aktion“ des letzten halben Jahres dafür gesorgt, dass Neuinfektionen nicht mehr im selben Maße zu ernsten Erkrankungen führen wie früher. Doch noch immer ist fast die Hälfte der Gesamtbevölkerung nicht vollständig geimpft.
Und selbst zweifach geimpfte Bürger können weiter an Covid erkranken – wie es am Wochenende das Beispiel des Gesundheitsministers Sajid Javid zeigte. Außerdem haben Ferguson und andere Wissenschaftler eine halbe Million zusätzlicher „Long-Covid“-Fälle, mit all den ernsten Folgen, auch für jüngere Leute, voraus gesagt.
Alarmiert finden viele Forscher, dass die Regierung nun „praktisch aufgegeben“ habe, den Infektions-Anstieg in England einzudämmen. Die Dimension dieser Entwicklung sei der Regierung vielleicht gar nicht bewusst, fürchtet Professor Andrew Hayward, Epidemiologie-Chef am University College London: „Wir steuern auf die größte Welle an Covid-Infektionen, die wir je gesehen haben, zu.“
Ungutes Gefühl
Die Regierung habe in Sachen „Freedom Day“ die Bevölkerung keinesfalls hinter sich, berichtet die „Times“, viele hätten ein ungutes Gefühl. Einer Umfrage des YouGov-Instituts zufolge halten 31 Prozent der Briten die Aufhebung der Restriktionen für richtig. 55 Prozent aber halten sie für falsch – für bedrohlich und verfrüht. Für soziale Distanzierung gesorgt war am Montag jedenfalls zwischen dem Regierungschef und seinen Mitbürgern – wiewohl Johnson diesen Abstand keineswegs freiwillig wahrte.
Just an dem großen Tag, den er seit Monaten anvisiert hatte, saß der Premier auf seinem Landsitz Chequers fest. Da sein Gesundheitsminister Sajid Javid pünktlich zum „Freedom Day“ trotz Impfung an Covid erkrankt ist und er zuvor engen Kontakt zu Johnson hatte, musste sich auch der Premier isolieren. Die Pressekonferenz zum „Tag der Freiheit“ am Montag gab Johnson via Fernschaltung aus seiner Einzelzelle in der Grafschaft Buckinghamshire.
unserem Korrespondenten Peter Nonnenmacher aus London