Der Streit zwischen Polen und der EU über die Rechtsstaatlichkeit spitzt sich weiter zu. Die Regierung in Warschau will den Vorrang europäischen Rechts, wie er sich aus den EU-Verträgen ergibt, nicht länger akzeptieren. „Die polnische Verfassung steht an erster Stelle“, erklärte Justizminister Zbigniew Ziobro am Mittwochabend und fügte eine Kampfansage an: „Wir werden uns gegen eine rechtliche Aggression der EU und eine Machtergreifung durch den Europäischen Gerichtshof zur Wehr setzen.“ Der EuGH dürfe auf keinen Fall in die Lage versetzt werden, polnische „Verfassungsorgane wie die Regierung, das Parlament oder den Präsidenten zu suspendieren“.

Was nach einem bevorstehenden Putschversuch klang, zielte vor allem auf ein erwartetes Urteil des höchsten EU-Gerichts. Und tatsächlich entschied der EuGH am Donnerstag, zentrale Teile der umstrittenen polnischen Justizreformen seien „mit EU-Recht nicht zu vereinbaren“. Im Kern ging es um die sogenannte Disziplinarkammer am Obersten Gericht in Warschau. Die rechtskonservative PiS-Regierung hatte die Kammer geschaffen, um jedes Verfahren vor jedem Gericht im Land überprüfen zu können und im Zweifel disziplinarische Schritte gegen das beteiligte Personal einzuleiten - bis hin zur Entlassung von Richterinnen oder Staatsanwälten. Die Kontrolle über die Kammer liegt bei der Regierungsmehrheit. „Die Kammer ist nicht unabhängig und nicht vor politischem Einfluss geschützt“, entschied der EuGH.

Genau eine solche „Einmischung in nationale Angelegenheiten“ hatte sich die PiS aber bereits im Vorfeld verbeten. Zuletzt brachte sie in dem Streit das Verfassungstribunal in Stellung, das seinerseits größtenteils mit regierungsnahen Richtern besetzt ist. Noch am Mittwochabend und damit wenige Stunden vor dem EuGH-Urteil verkündete der zuständige Senat seine Entscheidung. Demnach sind einstweilige Anordnungen des höchsten EU-Gerichts zur Justizpolitik nicht mit der polnischen Verfassung vereinbar und damit nichtig. Den Luxemburger Richterspruch kommentierte Minister Ziobro erneut mit scharfen Worten: „Das ist ein politisches Urteil auf Bestellung der EU-Kommission.“

Die Folgen dieses frontalen Zusammenstoßes sind noch kaum absehbar. „Das ist eine Bedrohung für die gesamte Architektur der EU“, hatte Justizkommissar Didier Reynders bereits im Vorfeld gewarnt.

Steilvorlage

Dabei spielte er auch auf den Streit um das EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Mai 2020 an. Die Karlsruher Richter hatten damals eine Entscheidung des EuGH zu Anleihekäufen der Europäischen Zentralbank als „objektiv willkürlich“ bezeichnet und Nachbesserungen verlangt. Kritiker sprachen im Anschluss sogleich von einer „Steilvorlage für Rechtsstaatverächter im Osten Europas“. Wie zum Beleg finden sich in dem jüngsten Urteil des polnischen Verfassungstribunals Formulierungen nach Karlsruher Vorbild. Der EuGH habe „ultra vires“ geurteilt, „jenseits der Gewalten“ und damit offen rechtswidrig, heißt es hier wie dort.

Fachleute fürchten allerdings, dass es damit nicht getan ist. Der Bielefelder Jura-Professor Franz Mayer warnte schon vor einem Jahr bei einer Anhörung im Bundestag: „Die europäische Rechtsgemeinschaft seht auf dem Spiel.“ Offensichtlich ist: Wenn zwei höchste Gerichte auf nationaler und auf EU-Ebene das letzte Wort für sich beanspruchen, birgt dies Sprengstoff. Und die polnische Regierung scheint bereit zu sein, die Lunte daranzulegen. Premier Mateusz Morawiecki hat bereits beim Verfassungstribunal eine grundsätzliche Prüfung beantragt, in welchem Verhältnis europäisches und nationales Recht zueinander stehen. Haben in Konfliktfällen die EU-Verträge Vorrang oder die polnische Verfassung? Fällt das Urteil gegen das EU-Recht aus, dann „wäre das der Polexit im Bereich des Rechts“. So zumindest sieht es Beata Morawiec, die Vorsitzende des regierungskritischen Richterbundes „Themis“.

Die Entscheidung des Warschauer Tribunals in dieser zentralen Frage war ursprünglich auch für Donnerstag angesetzt. Der zuständige Senat verschob die Urteilsverkündung dann aber auf den 3. August. Ein Zeichen des Entgegenkommens? In Warschau glauben das die wenigsten Beobachter. Viele PiS-kritische Kommentatoren sehen Polen sogar bereits auf dem Weg zu einem echten Polexit, also zum Austritt des Landes aus der EU. Dem widersprach der ehemalige Premier und EU-Ratspräsident Donald Tusk, der erst kürzlich die Führung der Opposition übernommen hatte: „Nicht Polen will die EU verlassen, sondern nur die PiS.“ Tatsächlich sind die Menschen im Land EU-Fans, wie man sie in kaum einem zweiten Mitgliedsstaat findet. In Umfragen bekennen sich regelmäßig mehr als 80 Prozent zur EU.

Ein Polexit-Referendum wäre also chancenlos. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Polen wie kein anderer EU-Staat vom Binnenmarkt und den Fördergeldern aus Brüssel profitiert. Als wahrscheinlichstes Szenario wird daher in Warschau eine Art „Polexit light“ gehandelt. Die PiS-Regierung könnte in rechtlichen Fragen einen Ausgleich mit Brüssel suchen. Zugleich würde sich Polen, das nicht zur Eurozone gehört, immer stärker von der EU-Integration verabschieden und vor allem die europäische Wertegemeinschaft endgültig aufkündigen. In Fragen wie Migration und Minderheitenschutz ist das allerdings längst geschehen, wie die wachsende Zahl der sogenannten „LGBT-freie Zonen“ in den PiS-Hochburgen Südostpolens belegt. Dass die Dinge zusammengehören, demonstrierte am Donnerstag die EU-Kommission. Sie leitete wegen der „Zonen“ ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen ein.