Eines kann Viktor Orbán besser als jeder andere: Mit traumwandlerischer Sicherheit findet der ungarische „Demokrator“ immer das Thema, das alle aufregt und das die Gesellschaft polarisiert. Das Verfahren funktioniert auch in der Europäischen Union. Geht es um die EU, achtet Orbán allerdings sorgfältig darauf, immer den kleineren Teil anzuführen, nie die Mehrheit. Der Rebell will er in Europa sein, der Volkstribun, nicht der Chef. Die Pose garantiert ihm seine Macht.
Homosexualität eignet sich zum Reizthema wie kaum ein anderes. Seit gut zwanzig Jahren löst es in Ost und West, auch über die politischen Lager hinweg, gegensätzliche Emotionen aus. Im Westen wird die Lösung von festen Geschlechterrollen als Befreiung empfunden. Es ist ein liberaler Impuls, der links, aber auch rechts seine Wirkung entfaltet - wenn man etwa an die „Log Cabin Republicans“ in den USA denkt, an Pim Fortuyn, den schwulen Gründer der niederländischen „Partei für die Freiheit“ oder die lesbische AfD-Klubchefin Alice Weidel in Deutschland. Was im Westen als Befreiung gilt, wird im Osten dagegen oft als Bedrohung erlebt.
Dabei ist Homophobie nichts spezifisch Osteuropäisches, im Gegenteil. Die großen „Skandale“ im 19. und 20. Jahrhundert wurden in England und Deutschland inszeniert. Weiter östlich wurde das Thema nie so wichtig genommen. Einen Strafrechtsparagraphen hat es etwa in Polen so wenig gegeben wie in Frankreich oder Italien. Schon 1957 wurde Sex zwischen erwachsenen Männern in der DDR straffrei, 1961 in Ungarn und im Jahr darauf endgültig auch in der Tschechoslowakei. Großbritannien dagegen war erst 1967 so weit, die Bundesrepublik Deutschland 1969 und Österreich 1971.
Erst seit 2000 ein ost-westlicher Kulturkampf
Erst nach dem Jahr 2000 wurde aus dem Streit um die Gleichstellung von Schwulen und Lesben, um eingetragene Partnerschaft und Homo-Ehe ein ost-westlicher Kulturkampf mit hohem Mobilisierungspotenzial – der erste seit 1989. Mehr als ein Jahrzehnt lang erhitzte der Krieg um die Paraden zum Christopher Street Day fast überall in der Region die Gemüter. Den blutigen Auftakt gaben Hooligans in Belgrad, als sie unter dem Ruf „Töte, töte, töte den Schwulen“ Dutzende Teilnehmer krankenhausreif schlugen. Im kroatischen Split warfen ganze Familien, Vater, Mutter, Kinder, Steine auf die Teilnehmer, in Riga schmissen empörte Bürger Beutel voller Exkremente. „Sei intolerant, sei normal!“, schrieb eine bulgarische Partei auf ihre Wahlplakate.
Argumente werden kaum benötigt. „Was da angeführt wird: Bestand des Volkes, Demoralisierung der Armee, Bedrohung der Ehe: Das sind alles nur Rationalisierungen“, sagt der Berliner Sexualforscher Martin Dannecker. Er deutet Homophobie, auch die aktuelle östliche, psychologisch. Hinter der Feindseligkeit stehe ein tiefer „Zweifel über die Kohärenz der Werte“. In Zeiten der Unsicherheit liefert nur „die Natur“ noch unverrückbare Gewissheit – scheinbar wenigstens. Um dem schwachen, unsicheren Staat Autorität zu verleihen, würden Staat und Familie immer in einem Atemzug genannt.
In Wahrheit aber werde die „natürliche“ Norm, auf die man sich berufe, als brüchig angesehen. Das sehe man schon daran, dass man sich, um ihr zu genügen, ständig „am Riemen reißen“ müsse. Schwule und andere sexuelle Minderheiten ließen offenbar die nötige Disziplin vermissen. Wozu aber muss man sich am Riemen reißen, wenn sich das richtige, natürliche Verhalten eh von selbst versteht? Dem Widerspruch entkommt niemand, der für die traditionellen Geschlechterrollen und gegen „widernatürliche“ Sexualität streitet: Wenn die Natur alles so fest vorgibt, wie die Homophoben behaupten, lassen die Geschlechtsidentitäten sich eben auch durch keine Lebenswirklichkeit, keine Gay-Pride-Parade und keine „homosexuelle Propaganda“ verwischen. Eigentlich also könnten sie dem Treiben ganz gelassen zusehen.
Gehasst würden Schwule, so Dannecker, "weil sie für Passivität stehen". Nicht nur persönlich machen viele Menschen in Osteuropa die Erfahrung, zur Passivität verdammt zu sein. Vielmehr teilt die ganze Nation, mit der man sich doch identifiziert, das erniedrigende Schicksal. Sie wird belehrt, gegängelt, im Verhältnis zum Westen, der sich als gebender, spendender Teil inszeniert, zur passiven Empfängerin gemacht – mit einem Wort: zur Frau. Seit dreißig Jahren Objekt unaufhörlichen westlichen „Mansplainings“ zu sein, ist für jede patriarchalische Gesellschaft eine Kränkung.
Wer sich öffentlich klein fühlt, persönlich oder als Nation, will wenigstens zu Hause den ganzen Mann geben dürfen. Schwule lassen „es mit sich machen“; daran entzündet sich der Hass. „Sie verraten die ganze Innung“, drückt Dannecker es aus. Familie ist der Freiraum für die „natürliche Ordnung“. Das verstanden schon die Kommunisten, die das beharrende Volk ständig mit Neuerungen, Umdeutungen, Kampagnen nervten. Vor Sexualität und Familie machten sie, wenn sie schlau waren, Halt. Eine liberale Gesellschaft, in der Änderungen sich von unten nach oben durchsetzen, setzt im Gegenteil gerade dort an.
Norbert Mappes-Niediek