In Tom Stoppards Theaterstück „Jumpers“ sagt der Protagonist, der Philosoph George Moore: „Als Wittgenstein einen Freund auf dem Flur traf, forderte er ihn auf: ,Sagen Sie mir, warum die Leute immer meinen, es sei für den Menschen natürlich anzunehmen, die Sonne drehe sich um die Erde, und nicht dass die Erde sich drehe.‘ Sein Freund antwortete: ,Nun ja, weil es offenbar so aussieht, als drehte sich die Sonne um die Erde.‘ Woraufhin der Philosoph entgegnete: ,Wie würde es denn aussehen, wenn es so aussähe, als würde sich die Erde drehen?‘“
Das ist ein wunderbar langsam zündender Witz, die Zuschauer lachen bereits, wenn ihnen klar wird, dass es ganz genauso aussehen würde, denn genau so ist es ja schließlich. Das ist das paradoxe Lachen, und gäbe es dieses nicht, wären die Literatur und das Leben schmerzlich ärmer; tatsächlich haben manche Kritiker erklärt, es bestehe eine so enge Verbindung zwischen dem Paradoxen und der Dichtung, dass sie ein und dasselbe seien.
Das Paradoxe nimmt seinen Anfang in der Bibel, wo die Vorstellung der jungfräulichen Geburt die paradoxe Natur des Glaubens verkörpert, und setzt sich bis zum heutigen Tag fort, wo schon die flüchtigste Suche nach der Literatur der Popkultur Analysen zum „Paradox der Beatles“ bietet (sie waren junge Rebellen, die rasch zu Etablierten mit königlichem Orden wurden), zum „Paradox der Oprah Winfrey“ (sie erteilt uns Ratschläge fürs Leben, als wäre sie ein enges Familienmitglied, während sie selbst unnahbar, geheimnisvoll und unbekannt bleibt) und zum „Paradox von Eminem“ (er ist und er ist nicht der echte Slim Shady). Don Quijote ist ein Paradox auf einem klapprigen Pferd, der fahrende Ritter, dessen Wanderschaft schon die Idee des fahrenden Ritters zunichtemacht, des ritterlichen Toren, dessen Torheit die noch viel größere Torheit des ritterlichen Ideals entlarvt.
Der Detektiv Erik Lönnrot in Borges’ Erzählung „Der Tod und der Kompass“ löst das Rätsel einer geheimnisvollen Mordserie und findet den Zeitpunkt und den Ort des nächsten Mords heraus; wobei er entdeckt, aber zu spät, um sich zu retten, dass er selbst zum nächsten Opfer bestimmt ist und die anderen Verbrechen nur begangen wurden, um ihn an den Ort seines Todes zu locken. Oscar Wilde, der sagte, er könne allem widerstehen, nur der Versuchung nicht, verkörpert die Paradoxien des Hedonismus. Und in Joseph Hellers Roman „Gut wie Gold“ spricht die Figur des Präsidentenberaters Ralph Newsome, die leibhaftige Verkörperung der Unredlichkeit in der Politik, ausschließlich in oxymoronischen Sätzen, deren Schluss dem Anfang widerspricht. „Dieser Präsident wird Sie während des ganzen Wegs unterstützen, bis er muss. Wir werden die Sache so rasch als möglich vorantreiben, müssen allerdings behutsam vorgehen. Im Moment kann überhaupt nichts geschehen. Der Präsident kann Ja-Sager nicht leiden. Was wir brauchen, sind unabhängige, integre Köpfe, die mit unseren Entscheidungen übereinstimmen, sobald diese gefallen sind.“ Die schönste aller Paradoxien stammt meines Erachtens von Walt Whitman, die er kurz vor dem Schluss von „Gesang von mir selbst“ bekanntermaßen formuliert: „Widersprech ich mir selbst? Nun gut, so widerspreche ich mir selbst. (Ich bin weiträumig, enthalte Vielheit.)“
Die menschliche Natur ist widersprüchlich, und das menschliche Ich ist ein umfassendes, vielgestaltiges Etwas. Wir können viele Ichs gleichzeitig sein, und wir sind es: Wir können sanft mit unseren Kindern umgehen, aber barsch mit unseren Angestellten; wir können Gott lieben, aber Menschen nicht mögen; wir können Sorge um unsere Umwelt haben und doch das elektrische Licht brennen lassen, wenn wir aus dem Haus gehen; wir können friedliche Seelen sein, die durch unsere Leidenschaft für eine Fußballmannschaft extrem aggressiv, wenn nicht gar zu Hooligans werden. Und gleichgültig, wie sehr wir uns auch wünschen mögen, die Souveränität des individuellen Ich zu verteidigen – eine Idee, die der florentinischen Renaissance entspringt, vielleicht Italiens größtes Geschenk an die Weltkultur –, dieses Ich ist in Wahrheit souverän und zugleich von vielen anderen Ichs erfüllt. Es ist zugleich autonom und nicht autonom.
Niemand kommt mit leeren Händen auf die Welt
Niemand von uns kommt mit leeren Händen auf die Welt. Wir schleppen das Gepäck unseres Erbes mit, sowohl des biologischen als auch des kulturellen Erbes, und dieses Erbe setzt uns einerseits Grenzen und befähigt uns andererseits, es lähmt und befreit uns. Wir halten uns vielleicht für einen Menschen, der frei entscheidet und für seine Entscheidungen die moralische Verantwortung trägt, und richtig, so sollten wir uns begreifen, aber die Art, wie wir zu diesen Entscheidungen finden und auch zu den gewissen Entscheidungen, die wir meinen treffen zu müssen, wird nicht allein von uns bestimmt. Wir sind also paradoxe Wesen, sowohl individuell als auch sozial, sowohl Wesen unserer Zeit als auch Teil des historischen Verlaufs.
Wir sind sterblich, haben aber wie Shakespeares Cleopatra unsterbliche Sehnsüchte in uns; und Widerspruch ist unser Lebenssaft. Diese weiten Definitionen des Ich bieten bedeutende gesellschaftliche Vorteile, denn je mehr Ichs wir in unserem Ich entdecken, umso leichter fällt es, Gemeinsamkeiten mit anderen multiplen, Vielheit enthaltenden Ichs zu entdecken. Wir haben vielleicht unterschiedliche religiöse Überzeugungen, stehen aber hinter derselben Mannschaft. Doch wir leben in einer Zeit, in der wir gedrängt werden, uns selbst immer enger zu definieren, unsere Vieldimensionalität in die Zwangsjacke einer eindimensional nationalen, ethnischen, tribalen oder religiösen Identität zu zwängen. Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dies ist vielleicht das Übel, dem alle anderen Übel unserer Zeit entspringen. Denn wenn wir uns dieser Verengung ergeben, wenn wir zustimmen, dass unser Ich vereinfacht wird, und wir lediglich zu Serben, Kroaten, Muslimen, Hindus werden, dann fällt es uns leicht, einander als Gegner zu sehen, als die anderen eines anderen, und die Himmelsrichtungen selbst beginnen, sich zu streiten, Osten und Westen prallen aufeinander und ebenso der Norden und der Süden. Die Literatur hat nie aus dem Blick verloren, was unsere streitsüchtige Welt uns vergessen lassen will. Die Literatur erfreut sich am Widerspruch, und in unseren Romanen und Dichtungen besingen wir unsere menschliche Vielschichtigkeit, unsere Fähigkeit, gleichzeitig Ja und Nein, dieses und jenes zu sein, ohne das geringste Unbehagen. Das arabische Äquivalent der Formel „es war einmal“ lautet „kan ma kan“, was so viel heißt wie: „Es war so, es war nicht so.“ Dieses große Paradox liegt im Kern aller Fiktion. Die Fiktion ist genau der Ort, wo Dinge sowohl so als auch nicht so sind, wo Welten existieren, an die wir fest glauben können, während wir zugleich wissen, dass sie nicht existieren, nicht existiert haben und niemals existieren werden. Und diese schöne Komplikation war nie bedeutsamer als in unserem Zeitalter der übermäßigen Vereinfachung.