Der durch seine Vorsitzführung im Brexit-Chaos berühmt gewordene britische Ex-Parlamentspräsident John Bercow (58) hat sich der oppositionellen Labour Party angeschlossen. Die Tories von Premierminister Boris Johnson würden nämlich eine "reaktionäre, populistische, nationalistische und mitunter ausländerfeindliche" Politik betreiben, sagte Bercow der Sonntagszeitung "Observer". "Die Leute haben genug von Lügen, leeren Slogans und fehlender Umsetzung", fügte er hinzu.
Seinen Parteiwechsel habe er schon vor einigen Wochen vollzogen, berichtete Bercow. Den Werten der Oppositionspartei stehe er nämlich mittlerweile näher als jenen der Konservativen, denen er seit dem Jahr 1980 angehört hatte. Tory-Abgeordneter wurde er im Jahr 1997, als Vorsitzender des Unterhauses amtierte er von 2009 bis 2019.
"Order!"
Im Ringen um den EU-Austritt profilierte sich Bercow als Kämpfer für die Rechte des Parlaments. So weigerte er sich, den parlamentarischen Widerstand gegen die konservative Minderheitsregierung zu unterdrücken und ließ immer wieder Anträge von Hinterbänklern zu, wobei er teils auch jahrhundertealte Präzedenzfälle hervorkramen ließ. Kultstatus erreichte er durch seine energische Vorsitzführung ("Order, order!").
Kritiker warfen Bercow vor, sich in den Dienst der Brexit-Gegner zu stellen. Die Folge des Parlamentschaos waren mehrere Verschiebungen des Austrittsdatums sowie eine vorgezogene Unterhauswahl im Dezember 2019, bei der Premier Boris Johnson mit dem Slogan "Get Brexit Done" ("Ziehen wir den Brexit durch") einen Erdrutschsieg einfuhr. Die Wahl beendete auch die Parlamentskarriere Bercows. Johnson verweigerte ihm danach entgegen bisherigen Gepflogenheiten einen Sitz im Oberhaus.
"Schlechter Regierungschef"
Bercow stellte im "Observer"-Interview in Abrede, dass sein Seitenwechsel damit im Zusammenhang stehe. Mit Labour habe er nicht über das Thema eines Sitzes im Oberhaus gesprochen und dies auch nicht zu Bedingung gemacht. Vielmehr wolle er dabei helfen, dass Johnson abgewählt wird. "Er ist ein erfolgreicher Wahlkämpfer, aber ein schlechter Regierungschef", sagte Bercow. "Er hat keine Vision für eine gerechtere Gesellschaft (...) oder die Leidenschaft, das Leben derjenigen zu verbessern, die weniger Glück hatten als er."
Der Ex-Unterhauschef kritisierte insbesondere den Umgang der Regierung Johnson mit dem Parlament. Es sei eine "Schande", dass das Parlament von der Regierung hintergangen und angelogen werde, sagte er in offenkundiger Anspielung auf die Enthüllungen von Johnsons Ex-Berater Dominic Cummings zum Pandemie-Management.
Oppositionsführer Keir Starmer sei zwar kein Bill Clinton oder Barack Obama, aber "anständig, ehrenhaft und intelligen", so Bercow über seinen neuen Parteichef. Ob der Labour die Tories ablösen könne, müsse sich noch herausstellen, räumte er ein. Die Regierungspartei sieht er jedoch klar in Schwierigkeiten. Bercow verwies diesbezüglich auf den überraschenden Verlust eines Parlamentssitzes bei der Nachwahl im südenglischen Wahlkreis Chesham and Amersham, einer bisherigen Tory-Hochburg. In Südengland hätten die Tories bei bisherigen Wählern deutlich an Vertrauen eingebüßt. "Für viele bisherige Tory-Wähler ist der Premierminister jemand, der nur ganz selten, bestenfalls in einem Schaltjahr, an der Wahrheit anstreift", sagte der für seine bissigen Kommentare bekannte Ex-Abgeordnete.