Wegen der grassierenden Delta-Variante des Coronavirus muss die Bevölkerung Englands mindestens einen Monat länger als geplant auf den lang verheißenen „Tag der Freiheit“ warten. Eigentlich hatte die britische Regierung am kommenden Montag so gut wie alle Restriktionen aufheben wollen, nachdem sich die Lage in den vorigen Monaten so günstig entwickelt hatte. Stattdessen sollen die bisher geltenden Lockdown-Regeln in England mindestens vier Wochen lang weiter in Kraft bleiben. Das beschloss das Kabinett in London. Schottland dürfte schon heute mit einer ähnlichen Verzögerung nachziehen.
Zornige Lockdown-Gegner in der Konservativen Partei prophezeiten, nun werde man womöglich bis zum nächsten Frühjahr mit „gänzlich überflüssigen“ Restriktionen leben müssen. Restaurants, Pubs, Theater und Kinos, in denen weiter auf Distanz gehalten werden muss, befürchten Millionenverluste und vielfache Pleiten durch den Beschluss. Ergrimmt reagierte auf den Aufschub auch Teile der Medien, die den 21. Juni seit Längerem zum „Tag der Freiheit“ stilisiert hat. Für dieses Datum hatte Premier Boris Johnson praktisch die gesamte Aufhebung des Lockdown in England, samt Distanzierungsvorschriften, in Aussicht gestellt.
Erste Schritte zur Lockerung waren in den Vormonaten unternommen worden. Bisher gilt freilich immer noch, dass sich im Normalfall in Innenräumen in England höchstens sechs Personen oder die Mitglieder zweier Haushalte und im Freien maximal 30 Personen gemeinsam aufhalten dürfen. Pubs und Restaurants operieren ebenfalls unter speziellen Auflagen. Barbetrieb ist untersagt. Nur an Tischen darf serviert werden. Nachtclubs müssen geschlossen bleiben.
Bei Hochzeiten haben wechselnde Beschränkungen der Teilnehmerzahlen viele Paare schon mehrfach zur Verschiebung entsprechender Feiern gezwungen. Weiterhin begrenzt bleiben Reisen ins Ausland ohne Pflicht zur Quarantäne bei der Rückkehr. Allerdings wird das Reisen auch immer schwieriger, weil immer mehr Nachbarländer sich nun abschotten gegen die „neue Gefahr“.
Die Hauptsorge gilt der rasanten Ausbreitung der zuerst in Indien gesichteten und inzwischen als „Delta“ registrierten Variante B.1.617.2 auf den Britischen Inseln – und die noch unbeantwortete Frage, in welchem Masse die erwartete neue Infektionswelle zu Klinik- und Todesfällen führt. Tatsächlich sind binnen einer einzigen Woche die Ansteckungszahlen in England um 50 Prozent gestiegen. Den Briten ist mittlerweile bewusst, dass diese Vari-ante mehr als 90 Prozent aller Fälle in Großbritannien betrifft und dass sie um mindestens 60 Prozent leichter übertragbar ist als noch die alte „Kent-Variante“ B.1.1.7 („Alpha“).
Die Bevölkerung verstehe die Maßnahmen durchaus, hat der renommierte Sozialpsychologe Stephen Reicher versichert. Einer Umfrage zufolge halten 54 Prozent der Briten eine Verzögerung der Lockerungsmaßnahmen für richtig. 37 Prozent halten sie für falsch.