Wäre es nach ihm gegangen, hätte Benjamin Netanjahu den Chefsessel wohl niemals geräumt. Aber am Sonntag war es so weit. Als in Jerusalem die von einem Achtparteienbündnis getragene, neue Regierung angelobt wurde, ging in Israel eine politische Ära zu Ende.
Wer ist der Mann, der das Land zwölf Jahre lang regierte? Netanjahu wurde 1949 in Tel Aviv in eine säkulare Familie geboren. Vater Benzion, Professor für jüdische Geschichte, war Anhänger einer nationalistischen Version des Zionismus. Sein älterer Bruder Yoni starb 1976 als Leiter des Geiselbefreiungskommandos in Entebbe. Ein einschneidendes Ereignis, dass den Jüngeren stark beeinflusste. Später diente er in derselben Elite-Kampfeinheit wie Yoni. Danach studierte er am renommierten Massachusetts Institute of Technology und schloss mit einem Master in Wirtschaftswissenschaften ab.
Verheiratet ist er mit Sara, einer Kinderpsychologin, mit der er zwei erwachsene Söhne hat. Auch seine Frau schrieb negative Schlagzeilen, von einbehaltenem Flaschenpfand über die Mitnahme von Schmutzwäsche ins Weiße Haus bis zu Klagen von ehemaligen Angestellten wegen schlechter Behandlung.
Kein israelischer Premier regierte länger
1993 wurde Netanjahu Vorsitzender des rechtskonservativen Likud und schaffte es drei Jahre darauf als jüngster Kandidat mit 46 Jahren zum ersten Mal ins Premierministeramt. Drei Jahre später schlug ihn Ehud Barak, und er verzog sich in die Privatwirtschaft. Doch sein Mentor, ArielSharon, überzeugte ihn, nach Jerusalem zurückzukehren. Netanjahu übernahm erneut den Likud und ließ sich 2009 zum zweiten Mal auf dem Chefsessel nieder. Im Vorjahr wurde er der am längsten amtierende Premier Israels.
Oft wurde ihm das Ende seiner Regierung vorausgesagt. Doch stets riss er das Ruder herum. Für viele wurde er durch seine Manöver zu einem Magier auf dem politischen Parkett. Sogar Kritiker bescheinigen Netanjahu nicht nur außergewöhnliches politisches Geschick, sondern auch Klugheit. Er lese in seiner Freizeit fast pausenlos, vor allem über Geschichte.
Besonders in den vier Jahren der Trump-Regierung wurde ihm vom Westen kaum ein Strich durch die Rechnung gemacht, ob es um eine Botschaft in Jerusalem oder Siedlungsbau auf Palästinensergebiet ging. Trump bezeichnete er stets als „meinen Freund Donald“.
Eine ganz spezielle Beziehung verbindet ihn auch mit Bundeskanzler Sebastian Kurz, der in dem Israeli ein großes staatsmännisches Vorbild sieht. Die politische Männerfreundschaft wird als Grund für Österreichs Wandel vom Israel-Kritiker zum ausgesprochenen Israel-Befürworter angegeben. „Ich muss sagen, das ist frischer Wind, das ist Führung“, sagte Netanjahu heuer bei einem Besuch von Kurz in Jerusalem.
Friedensabkommen mit der arabischen Welt
Zusehends wandte er sich auch gemäßigteren arabischen Anführern der Region zu, etwa dem ägyptischen Nachbarn Abdel Fattah al-Sisi. Mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Bahrain, Marokko schloss er Frieden, und sogar der Sudan sagte Normalisierung zu. Auch mit Saudi-Arabien sollte angeblich ein Abkommen bevorstehen. Die Palästinenser und der Gazastreifen rückten damit immer mehr in den Hintergrund.
All das geschah angesichts der von ihm beschworenen Bedrohung durch das Regime in Teheran. Der Iran wurde von Netanjahu zum Erzfeind erkoren. Die Israelis verpassten ihm dafür den Spitznamen „Bibi Bitachon“ – Bibi für die Sicherheit. Einen Titel, den er sich indirekt selbst gab. „Nur ich allein bin in der Lage, das Land zu führen“, sagte er ohne Bescheidenheit und versicherte der potenziellen neuen Regierung schon vor Amtsantritt, sie sei nicht in der Lage, das Land vor den vielfältigen Gefahren zu schützen.
Für viele ist er nur mehr der "Crime Minister"
Doch immer mehr Menschen meinen, alles sei nur noch heiße Luft eines politisch Ertrinkenden. Für die Demonstranten, die vor seiner Residenz in Jerusalem protestieren, ist er ein „Crime Minister“. Der 71-Jährige ist in drei Fällen wegen Betrug, Veruntreuung und Bestechlichkeit angeklagt. Nach den ersten Anhörungen vor dem Gericht tönte er gegen die Staatsanwaltschaft: „So sieht ein Putsch aus.“ Die Justiz beschuldigt Netanjahu des „massiven Machtmissbrauchs“. Er habe seine Autorität für seinen persönlichen Vorteil missbraucht, vor allem, um wiedergewählt zu werden. Der Korruptionsprozess setzte ihm zu. Obwohl er nicht müde wurde, zu betonen, das „alles eine Hexenjagd“ sei, wurde das Gemunkel sogar von Vertrauten lauter, dass er nur noch damit beschäftigt sei, eine Verurteilung zu verhindern.
Damit lässt sich kein Land regieren, vor allem nicht im fragilen Nahen Osten. So wurde ihm bei der jüngsten kriegerischen Auseinandersetzung mit der Hamas nachgesagt, er habe die Eskalation nur zugelassen, um die Koalitionsverhandlungen des Anti-Netanjahu-Blocks zu verhindern. Sein letzter Schachzug war es, die arabischen Wähler ins Boot holen zu wollen. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass er damit höchstpersönlich den Boden für seinen Sturz bereitet hat.
von unserer Korrespondentin Sabine Brandes aus Tel Aviv