Der Parteitag der deutschen Grünen in Berlin hat Annalena Baerbock mit überwältigender Mehrheit als erste grüne Kanzlerkandidatin bestätigt. Zugleich bekräftigten 678 von 688 Online-Delegierten am Samstag die Rolle der beiden Parteichefs Baerbock und Robert Habeck als Wahlkampf-Spitzenduo - das entspricht 98,55 Prozent der abgegebenen Stimmen. Über beide Punkte entschieden die Delegierten in einer einzigen Abstimmung.
In den Umfragen im freien Fall
Nach Baerbocks Nominierung im April genossen die Grünen zunächst ein Umfragehoch. In der Sonntagsfrage kamen sie auf bis zu 28 Prozent und lagen teilweise sogar vor der Union (CDU/CSU), die zu diesem Zeitpunkt mit der Maskenaffäre und dem Führungsstreit zwischen CDU-Chef Armin Laschet und dem CSU-Vorsitzenden Markus Söder zu kämpfen hatte. Auch Baerbocks persönliche Werte brachen seitdem aber ein: In einer aktuellen Umfrage lag sie in der Frage einer Direktwahl des Bundeskanzlers hinter CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet und SPD-Bewerber Olaf Scholz. Die große Zustimmung in der Abstimmung am Samstag ist deshalb auch ein Signal der Geschlossenheit.
Seit dreieinhalb Wochen jedoch belasten eigene Fehler die Grünen. Zuerst wurde bekannt, dass Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock Sonderzahlungen an den Bundestag nachmeldete. Dann gab es Kritik, weil sie und ihre Partei mehrmals irreführende Angaben im Lebenslauf von Baerbock korrigieren mussten. Habeck wiederum sorgte mit Forderungen nach der Lieferung von "Defensivwaffen" an die Ukraine für Verwirrung. Auch die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt, wo die Grünen sich nur leicht auf 5,9 Prozent verbessern konnten, lieferte keinen neuen Schwung.
In Umfragen stürzten die Grünen zuletzt ab, während die Union als Spitzenreiter den Abstand vergrößern konnte. Die Forschungsgruppe Wahlen sieht die CDU/CSU im Donnerstag veröffentlichten ZDF-Politbarometer bei 28 Prozent und die Grünen bei 22 Prozent. Der ebenfalls am Donnerstag veröffentlichte ARD-Deutschlandtrend platziert die Union ebenfalls bei 28 Prozent und die Grünen bei 20 Prozent.
Soziale Agenda steht im Vordergrund
Inhaltlich ziehen die deutschen Grünen mit sozialpolitischen Ansagen in den Bundestagswahlkampf. Wie der Online-Parteitag am Samstag beschloss, sollen die monatlichen Zahlungen des Sozialgeldes Hartz IV für über fünf Millionen Erwachsene und Kinder in der Grundsicherung um mindestens 50 Euro steigen. Außerdem fordere man einen Mindestlohn von zwölf Euro, doch hatten einige Delegierte sogar 13 Euro verlangt. Auch Basisanträge für eine 30-Stunden-Woche und eine Vollbeschäftigungsgarantie scheiterten.
Die konkrete Forderung für die Hartz-IV-Erhöhung sei eine "Mindestbedingung für jede Koalition", sagte der sozialpolitische Sprecher der Grünen, Sven Lehmann. Beim gesetzlichen Mindestlohn blieb es bei der Forderung nach einer Erhöhung auf zwölf Euro. Delegierte hatten 13 Euro gefordert.
Derzeit erhält in Deutschland ein erwachsener, alleinlebender Bezieher der Grundsicherung für Erwerbsuchende monatlich 446 Euro zum Lebensunterhalt und zusätzlich die Wohnungskosten. Der Nachwuchsverband Grüne Jugend hatte eine Erhöhung um 200 Euro verlangt. Lehmann warnte, eine Erhöhung in diesem Umfang würde Mehrkosten von 30 bis 35 Milliarden Euro pro Jahr bedeuten. Die Kosten einer Erhöhung um 50 Euro bezifferte er nicht. Rein rechnerisch könnte sich dies bei gut 5,4 Millionen Beziehern von Hartz-IV auf über drei Milliarden Euro belaufen. Wenn der Regelsatz steigt, kann aber auch die Zahl der Anspruchsberechtigten zunehmen. Finanziert werden die Zahlungen für den Lebensunterhalt vom Bund aus Steuergeldern.
Im Wahlprogramm bleibt es bei der Forderung, den Mindestlohn von derzeit 9,50 Euro auf zwölf Euro zu erhöhen. "Jetzt einfach 13 Euro in das Wahlprogramm zu schreiben, macht das Leben für niemanden besser", sagte Bundesgeschäftsführer Michael Kellner. "Aber es schwächt unsere breite Allianz mit den Gewerkschaften." Mit der Forderung nach zwölf Euro stünden die Grünen in einem sehr breiten Bündnis mit den Gewerkschaften.
Wie bereits in der Klimapolitik setzte sich in der Debatte über die Arbeits- und Sozialpolitik die Parteiführung weitgehend durch. Am Abend sollte es noch um die Wirtschafts- und Finanzpolitik gehen. Dabei gibt es auch die Forderung von der Basis, den Spitzensteuersatz auf 53 Prozent und damit weitaus stärker anzuheben, als von der Parteispitze im Wahlprogramm angekündigt. Parteichef Habeck will am Abend selbst für eine Ablehnung dieser Forderung werben.
Am Freitag hatte die Parteiführung in allen Abstimmungen zur Klima- und Umweltpolitik Verschärfungen abgewehrt. So konnten sich Delegierte mit der Forderung nach einem schnelleren Anstieg der CO2-Bepreisung im Verkehr und beim Heizen nicht durchsetzen. Habeck schwor seine Partei auf einen harten Wahlkampf ein. "Der Tag hat gezeigt: Die Partei will Erfolg", sagte Kellner.