Eine schon seit Monaten schwelende Krise zwischen Großbritannien und der EU beginnt sich bedrohlich zuzuspitzen, nachdem Verhandlungen zur Entschärfung der Lage am Mittwoch in London praktisch zusammen gebrochen sind.

Beide Seiten befürchten nun, dass ungelöste Fragen bei der Umsetzung des Brexit-Vertrags in Sachen Nordirland zu neuem Rechtsstreit und schlimmstenfalls sogar zu einem Handelskrieg und zum Kollaps des Vertrags führen können.

Gefährliche Unruhen in Nordirland

Leider habe man sich auf nichts einigen können, erklärte Londons Brexit-Minister und Chef-Unterhändler Lord Frost resigniert. Natürlich könne man weiterreden, meinte er. Aber das Problem sei, dass die EU den Brexit-Vertrag auf eine Weise umzusetzen suche, die schon jetzt gefährliche Unruhe in Nordirland geschaffen habe und noch Schlimmeres erwarten lasse dort.

EU-Vizepräsident Maros Sefcovic, der für die Union verhandelte, warnte, beide Seiten seien offenkundig „an einem Scheideweg“ angekommen. Sträube sich London weiter, seine Brexit-Verpflichtungen zu erfüllen, würde die EU „rasch und resolut“ für die Einhaltung dieser Verpflichtungen sorgen müssen. Dabei mochte der EU-Gesandte generelle Sanktionen und Strafzölle nicht länger ausschließen. „Unsere Geduld geht nun wirklich zu Ende“, fügte er hinzu.

Nordirland-Protokoll

Der bittere Streit gilt dem sogenannten Nordirland-Protokoll, einem Bestandteil des britischen Brexit-Vertrags mit Brüssel. Das Nordirland-Protokoll soll dafür sorgen, dass die Grenze zwischen Nordirland und der Irischen Republik, um den nordirischen Frieden zu garantieren, auch nach dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs aus der EU offen gehalten werden kann.

Das Protokoll regelt entsprechend erforderlich gewordene Kontrollen an Nordirlands Küsten, für den Warenverkehr aus England, Schottland und Wales in die Provinz, und soll so den EU-Binnenmarkt absichern gegen Importe, die möglicherweise nicht mit EU-Vorschriften und Gesundheits-Bestimmungen der Union vereinbar sind.

Diese „Grenzverschiebung“ hat aber zu Verzögerungen und zu Einschränkungen beim Warentransport über die Irische See, also von einem Teil des Vereinigten Königreichs zum andern, geführt. Bereits zu Ostern kam es darüber in Nordirland zu nächtelangen Krawallen. Loyalistische Demonstranten klagten, man habe sie „abgekoppelt“ vom Rest des Königreichs.

Die Regierung in London stellte daraufhin den Bau an den im Nordirland-Protokoll vereinbarten Zollstellen ein. Sie weigert sich bislang auch, der EU elektronischen Einblick in Zolldaten zu gewähren. Eine Reihe spezieller Übergangsregelungen ist ausserdem von London einseitig verlängert worden. Gegen diesen Schritt geht die EU gegenwärtig juristisch vor.

Dessen ungeachtet, will London nun aber noch weitere Übergangsregelungen, wie etwa zum Transport von gekühltem Fleisch von Britannien nach Nordirland, auf unbestimmte Zeit hinauszögern. Bratwurst-Kontrollen vom 1. Juli an seien „völliger Blödsinn“, hat dazu Landwirtschaftsminister George Eustice erklärt.

Flexiblere Handhabung

Auf europäischer Seite hat man sich unterdessen zu einer flexibleren Handhabung mancher Vorschriften, wie etwa beim Transport von Medikamenten, bereit erklärt  - fürs Erste. In Brüssel und Dublin fürchtet man aber, dass die britische Regierung es darauf abgesehen hat, das Nordirland-Protokoll ganz zu Fall zu bringen. Auf sanitäre und andere EU-Standards einlassen will man sich in London prinzipiell nicht.

Auf wenig Glaubwürdigkeit ist derweil auch in Großbritannien die jüngste Beteuerung von Lord Frost gestoßen, die britische Regierung habe „den Effekt des Protokolls auf Warenlieferungen nach Nordirland unterschätzt“, weshalb das Protokoll nun neu überdacht werden müsse.

Abfällig reagiert hat auf diese Behauptung unter anderem der Stabschef der früheren Tory-Premierministerin Theresa May, Gavin Barwell, der bis 2019 eine zentrale Rolle spielte bei der Aushandlung von Brexit-Vereinbarungen und der in engem Kontakt mit Boris Johnson zu dessen Zeit als Aussenminister stand.

Es sei „absolut nicht denkbar“, dass Johnson und sein Team nicht gewusst hätten, was sie 2019 unterzeichneten, meinte Barwell am Mittwoch. Johnson habe „vollkommen verstanden“, was „die Konsequenzen“ seines Vertrags sein würden, betreffs Grenzkontrollen in der Irischen See.

Boris Johnson habe es einfach leichter gefunden, mit einem fertigen Brexit-Deal in die Wahlen vom Dezember 2019 zu ziehen, vermutet Barwell: „Ich denke, die Kalkulation war, unterschreib erst mal, was dir angeboten wird, und schau dann später, was du machst mit den Dingen, die dir nicht gefallen. Ich denke, die EU ist zum selben Schluss gekommen wie ich.“

Hoffen auf Joe Biden

Im EU-Lager hofft man einstweilen, dass US-Präsident Joe Biden, der am Mittwochabend zum G7-Gipfel nach England flog, Druck auf Johnson in der Nordirland-Frage ausüben wird. Der irisch-stämmige Biden hat schon früher gedroht, es werde zu keinem neuen Handelsvertrag zwischen USA und Grossbritannien kommen, falls Johnsons „harter Brexit“ das Belfaster Friedens-Abkommen von 1998 untergrabe, dessen Garant auch Washington ist.