Der Moment hat sich im kollektiven Bewusstsein europäischer Regierungschefs eingeprägt: Donald Trump schiebt den verdutzten Premier von Montenegro während eines gemeinsamen Fototermins beim Nato-Gipfel in Brüssel vor drei Jahren schroff beiseite. Ohne seine Amtskollegen zu beachten, lässt er seinen Blick mit herablassender Miene in die Ferne schweifen. Der US-Präsident als menschgewordene Inkarnation seiner „America First“-Politik“ zeigt den Europäern, was er wirklich von ihnen hält.
Diese Woche, wenn es den neuen US-Präsidenten zum ersten Mal in seiner Amtszeit nach Europa zieht, wird es anders sein. Am Freitag wird der 78-jährige Demokrat Joe Biden, der als eingeschworener Transatlantiker gilt, am Gipfel der sieben führenden Industrienationen (G7) in Cornwall im Südwesten Englands teilnehmen. Am Montag geht es nach Brüssel zum Nato-Gipfel. In der belgischen Hauptstadt wird Biden auch mit hohen Repräsentanten der EU zusammentreffen. Zum Abschluss ist am 16. Juni ein Gipfeltreffen mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin in Genf geplant.
Im Zeichen des neuen Zeitalters
Bidens erste Auslandsreise steht ganz im Zeichen des von Washington ausgerufenen neuen Zeitalters des wirtschaftlichen, politischen und militärischen Systemwettbewerbes der Großmächte: Auf der einen Seite die USA, das demokratisches Europa, sowie Alliierte und Partner in anderen Teilen der Welt. Auf der anderen Seite die autokratischen Staaten China und Russland. Bidens Ziel ist die Stärkung der „demokratischen Allianzen“, wie er es im Gastkommentar in der „Washington Post“ vor wenigen Tagen schrieb. Laut dem Präsidenten soll es „keinen Zweifel an der Entschlossenheit der USA geben, unsere demokratischen Werte zu verteidigen, die wir nicht von unseren Interessen trennen können“.
Abseits jener erhabenen Rhetorik will Biden von Europa eine härtere Gangart gegenüber Peking und Moskau einfordern. Das beinhaltet reduzierte Abhängigkeit von russischen Rohstoffen sowie von Chinas Technologie und Kapital. Gleichzeitig will das Weiße Haus eine engere Kooperation mit Europa in Klimafragen sowie in der Technologie- und Wirtschaftspolitik. Mit überparteilicher Zustimmung hat der US-Senat dazu einen Gesetzesentwurf verabschiedet, der unter anderem die Herstellung von Halbleitern fördern soll. Der Entwurf sieht Ausgaben in Höhe von 250 Milliarden US-Dollar (205 Milliarden Euro) für die technologische Forschung und Entwicklung vor und zielt darauf ab, Chinas Einfluss in der Welt etwas entgegenzusetzen.
Wie wird Bidens Botschaft ankommen? Was die Energiepolitik betrifft, lässt sich vor allem Deutschland wenig vorschreiben und setzt weiterhin auf die Gaspipeline Nordstream 2. Um eine Vertiefung transatlantischen Beziehungen nicht zu gefährden, verzichtete Biden auf angekündigte Sanktionen. Tatsächlich ist seine Außenpolitik „für die amerikanische Mittelklasse“ aber in vielerlei Hinsicht eine Fortsetzung des Trumpschen Kurses. In der Technologie- und Handelspolitik gibt es nach wie vor Meinungsverschiedenheiten, etwa im Bereich des Datenschutzes und beim Export kritischer Technologien wie Halbleiterchips.
Letztendlich bleibt für die Amerikaner die Sicherheitspolitik wichtigster Faktor in den transatlantischen Beziehungen. Obwohl die Biden-Regierung versucht, enger mit der EU zu kooperieren, ist die NATO nach wie vor das Prisma durch das Washington Europa betrachtet. Es überrascht daher nicht, dass Biden das transatlantische Bündnis gegen Peking einschwören will. Im Gegensatz zu den USA, fühlt sich der Kontinent aber nicht von China militärisch bedroht. Ein langsames Umdenken ist unter Europäern dennoch bemerkbar. Deutschland wird heuer ein Kriegsschiff nach Ostasien schicken. Briten und Franzosen patrouillieren mittlerweile ebenfalls im großteils von China beanspruchten Südchinesischen Meer.
Taiwan
Sollte im Abschlusskommuniqué der G7 auf den Status Quo Taiwans hingewiesen werden, würde das einen Achtungserfolg der US-Diplomatie darstellen. Ob vor allem Berlin solch ein Vorgehen unterstützt, bleibt aber fraglich. Auch der amtierende Generalsekretär der Nato sträubt sich China öffentlich als „Gegner“ zu bezeichnen. Nato und EU sehen Peking aber durchaus als strategischen Rivalen. Letztere hat ein Investitionsabkommen mit der China aufgrund von politischen Sanktionen und Menschenrechtsverletzungen in der Provinz Xinjiang auf unbestimmte Zeit auf Eis gelegt. Früher oder später wird Europa beim harten China Kurs der Amerikaner mitziehen.
Washington 2021 erinnert an Wien 1908
Das größte Problem für Biden und seinen Beziehungen zu Europa ist paradoxerweise aber genau jene Konfrontation mit China. Das ist nicht nur der Geopolitik oder dem Hegemonialstreben der USA zuzuschreiben, sondern hat vielmehr innenpolitische Gründe. Washington 2021 erinnert an Wien 1908: Damals wie heute mehren sich die Stimmen innerhalb der USA, dass nur durch einen gezielten Fokus auf einen externen Gegner die allgemeine innenpolitische Lähmung und die tiefen Gräben innerhalb der Gesellschaft überwinden werden können. Was für Österreich-Ungarn Italien und Serbien war, ist für die USA heute China und mit weitem Abstand dahinter Russland. Der Systemwettbewerb hat damit eine klare innenpolitische Mission. Unter der US-Elite ist der Systemwettbewerb mittlerweile überparteilicher Konsens. Das kann aber zu falschen außen- und innenpolitischen Priorisierungen verleiten. Unter anderem könnte es dazu führen, dass interne Bedrohungen für die Demokratie vernachlässigt werden könnten und Schritte zur Depolarisierung der Gesellschaft nicht gesetzt werden. Jenen Politiker, die glauben, dass die USA eine globale Allianz gegen China und Russland anführen könnten während gleichzeitig politische Institutionen und demokratische Normen in den USA erodieren, sollten Worte Abraham Lincoln von 1858 als Mahnung gelten: „Jedes Haus, das in sich uneins ist, wird nicht bestehen.“
Nur ein vereinigtes Amerika kann ein verlässlicher Partner Europas sein. Daher gilt die Sorge vieler Europäer nicht so sehr China, sondern vielmehr dem Präsidentschaftswahlkampf 2024. Letztendlich werden die von Biden angesprochenen „demokratischen Werte“ im Zeitalter des Systemwettbewerbes zuallererst daheim erfolgreich verteidigt werden müssen. Hierzu bedarf es gezielter struktureller und institutioneller Reformen innerhalb der USA, um dann transatlantische Beziehungen langfristig auf eine solidere Basis zu stellen. Nur so werden sich die USA in ihrer angestammten Rolle als demokratische Weltmacht gegenüber China und Russland behaupten können.
Franz-Stefan Gady aus New York