Wann immer sich der emeritierte griechisch-katholische Bischof von Galiläa Elias Chacour vorstellt, sorgt er für Verwirrung: „Ich bin Israeli und Araber, Palästinenser und Christ.“ Wie kann man das alles zugleich sein? Sind das nicht sich ausschließende Gegensätze? Das sind die Fragen, die verständnislose Besucher ihm häufig stellen. Die Antwort liegt in der wechselhaften Geschichte des Landes. Chacour kam 1939 als Kind arabischer Eltern, die sich zum Christentum bekannten, in Palästina zur Welt. Er wuchs im kleinen Dorf Gisch auf, das nach dem Waffenstillstand von 1949 zu Israel gehörte. Damit vereint Chacour all diese politischen und religiösen Identitäten in sich.
Im heutigen Staat Israel sind knapp 20 Prozent der neun Millionen Einwohner Araber. Sie sind israelische Staatsbürger, haben offiziell die gleichen Rechte und Pflichten wie die jüdischen Israelis, mit einer Ausnahme: Sie müssen nicht zum Militär. Sie können das freilich, wenn sie es wollen. Vor allem eine kleine Gruppe arabischer, griechisch-orthodoxer Christen aus Nazareth befürwortet den Militärdienst. Ihr Argument: Israel sei ihre Heimat, die sie im Notfall auch verteidigen müssten. Diese Ansicht teilen aber nur wenige israelische Araber. 82 Prozent von ihnen geben zwar an, dass sie lieber in diesem Land als in jedem anderen leben, aber nur 24 Prozent haben „patriotische Gefühle“ für Israel entwickelt.
Wahlverweigerung als Ausdruck von Frustration
Diese Beziehungslosigkeit spiegelt sich in der niedrigen Beteiligung bei Parlamentswahlen wider. Sie liegt deutlich unter der Quote der jüdischen Israelis. So werden die 20 Prozent der israelisch-arabischen Bevölkerung von nur acht bis maximal zehn Abgeordneten in der Knesset mit ihren 120 Sitzen vertreten. Die Wahlverweigerung ist Ausdruck einer Frustration, die über die Jahre hinweg gewachsen ist, und des Bewusstseins, dass Israel nicht ihr Staat ist. Die ältere Generation unter den Arabern nimmt den Staat als unveränderlich hin. Man versucht, ein Maximum an sozialen Leistungen zu bekommen. Die jüngere Generation hingegen zeigt Tendenzen zu einer immer stärkeren Islamisierung, deren Ziel die Zerstörung Israels und die Schaffung eines islamischen Staates ist.
Tatsächlich ist es schwer, sich als Muslim oder als arabischer Christ mit einem Staat zu identifizieren, dessen Feiertage und Kalender jüdisch sind, dessen Flagge einem religiösen Symbol, dem Gebetsschal der Juden, nachempfunden ist und dessen Nationalhymne ausschließlich die jüdische Identität hochhält, wenn es im Text heißt: „Solange noch im Herzen drinnen eine jüdische Seele wohnt und nach Osten hin, vorwärts, ein Auge nach Zion blickt. So lange ist unsere Hoffnung nicht verloren, die uns zweitausend Jahre verband: zu sein ein freies Volk, in unserem Land, im Lande Zion und in Jerusalem.“
Zur weltanschaulichen Distanz kommt bei den Arabern die Diskriminierung im Alltag. Obwohl sie einen israelischen Reisepass besitzen und die meisten perfekt Hebräisch sprechen, kommt es vor, dass sie auf dem Flughafen strenger kontrolliert werden als ihre jüdischen Mitbürger. Ein arabischer Sanitäter in einem jüdischen Krankenwagen erzählte mir einmal, dass ein auf der Straße liegendes Unfallopfer zu ihm sagte: „Ich bin froh, dass Sie Jude sind. Von einem Araber würde ich mir nie helfen lassen.“
Die Araber Israels fühlen sich als Bürger zweiter Klasse. In den „gemischten“ Städten wie Jerusalem (30 Prozent Araber), Jaffa, Akko und Lod (je 20 Prozent) ist es so, dass die Gruppen zwar zusammenleben, aber dennoch unter sich bleiben. Einzig in Haifa (15 Prozent Araber), so bestätigen beide Seiten, sei es anders. Dort wehrte sich ein sozialistischer Bürgermeister erfolgreich gegen die auf nationaler Ebene erfolgte Polarisierung der Gesellschaft. In der Industriestadt gibt es in allen öffentlichen Bereichen Kooperationsprojekte. Eines, das aufgrund einer privaten Initiative bereits vor vier Generationen entstand, ist das am Strand südlich von Haifa gelegene „Maxim“. Das Restaurant, das sich im Besitz einer jüdischen und einer arabisch-christlichen Familie befindet, wurde im Oktober 2003 während der zweiten Intifada Ziel eines Anschlags. Eine arabische Juristin suchte das Lokal mit einem Taxifahrer auf, lud den Mann zum Essen ein, schickte ihn dann weg und zündete eine Bombe. 19 Tote, darunter fünf Kinder, und mehr als 50 Verletzte waren die traurige Bilanz. Das Motiv: Die Frau wollte ein Zeichen gegen die Kooperation von Arabern und Juden setzen.
Es ist vielfach belegt, dass jene, die zwischen den politischen Gruppierungen oder den Religionen Brücken schlagen wollen, es in diesem Land sehr schwer haben. Sie werden als „Verräter“ beschimpft, angespuckt, mit dem Tod bedroht oder tatsächlich ermordet. In allen anderen Städten des Landes hätte man das schwer beschädigte Lokal vermutlich geschlossen. Nicht so in Haifa. Das „Maxim“ wurde als „politisches Zeichen, dass wir uns nicht unterkriegen lassen“, wiedereröffnet.
Die arabischen Israelis oder „die Araber von 1948“, wie sie auch genannt werden, sind die Überlebenden und deren Nachkommen, die 1948 nicht aus jenen Gebieten geflohen sind, die zum Staat Israel wurden. Das waren etwa 160.000 Personen. Rund 700.000 zogen es vor, sich in Jordanien, im Gazastreifen oder in der Westbank in Sicherheit zu bringen.
Vor allem suchte die Mittel- und die Oberschicht, zu der auch die religiösen Führer gehörten, das Weite. Jene, die zurückblieben, waren oft ungebildet und führungslos. Sie hatten auch keine gesellschaftlichen Institutionen, an die sie sich hätten wenden können. In dem neuen Staat fanden sie sich als unorganisierte Minderheit wieder, während die Juden die Mehrheit stellten –eine für beide Seiten ungewohnte Situation. Bis heute diskutieren israelische Historiker heftig darüber, wie viele der 700.000 Araber tatsächlich geflüchtet sind und wie viele systematisch vertrieben wurden. Unbestritten ist, dass ebenso viele Juden aus arabischen Ländern vertrieben wurden, die sich dann in Israel ansiedelten.
Die 48er-Araber suchen noch immer nach ihrer Identität. Diese ist bis heute unklar. So sehen sich 43 Prozent der Muslime als „palästinensische Araber“, aber nur 24 Prozent der Christen wollen sich so ansprechen lassen. 26 Prozent der Christen bezeichnen sich als „christliche Israelis“ und 23 Prozent als „arabische Israelis“.
Um zwischen den einzelnen politischen und ethnischen Gruppierungen in Israel-Palästina unterscheiden zu können, hat sich in den deutschsprachigen Medien folgende Sprachregelung eingebürgert: Als Palästinenser werden Araber in der Westbank (im Westjordanland) und im Gazastreifen bezeichnet. Die in Israel lebenden Araber fallen nicht unter diese Bezeichnung. Wenn sich diese selbst als Palästinenser bezeichnen, dann ist dies eine klare politische Stellungnahme in Richtung PLO oder Hamas. Auch Juden, die vor der Gründung des Staates Israel im Land geboren wurden, können sich zu Recht als Palästinenser bezeichnen, wurden sie doch in Palästina geboren. Man sieht: Im Nahen Osten bleibt bis auf Weiteres alles sehr kompliziert.
Der Anteil der Christen in Israel beträgt nur zwei Prozent, wobei die Christen auch keinen konfessionell geschlossenen Block bilden, sondern in mehrere Dutzend Kirchen und „Denominationen“ aufgespalten sind. Zu den arabischen Christen, die die Mehrheit bilden, kommt eine wachsende Zahl von Gastarbeitern von den Philippinen. Eine Gruppe, die sich aus politischen Gründen mit ihren arabischen Glaubensbrüdern schwertut, sind die christlichen Einwanderer aus dem ehemaligen Ostblock. Oft sind sie Angehörige aus Mischehen mit Juden. Sie fühlen sich den hebräisch sprechenden Kirchen zugehörig. Die Christen stellen eine extreme Minderheit innerhalb der arabischen Minderheit des Staates Israel dar. Das reduziert ihren gesellschaftlichen Einfluss. Nur in zwei Bereichen sind sie dennoch das „Salz der Erde“: im Sozial- und im Bildungsbereich.
Dieser Text ist dem dieser Tage, in der Edition Kleine Zeitung erschienenen Magazin "Mein gelobtes Land" entnommen.
Wolfgang Sotill