60 Jahre nach der Gründung kann Amnesty International, die weltweit größte Menschenrechtsorganisation, auf viele Erfolge, allen voran die Abschaffung der Todesstrafe in zahlreichen Ländern, zurückblicken. Aktuell zeichnet die neue Generalsekretärin Agnés Callamard aber ein düsteres Bild der weltweiten Situation der Menschenrechte.
Man stehe heute vor "noch nie da gewesenen Herausforderungen und Bedrohungen" für Menschenrechte, erklärte sie im Gespräch mit der APA. So sei man aktuell nicht nur mit Menschenrechtsverletzungen konfrontiert, sondern auch damit, dass die gesamte Auffassung von Menschenrechten und wie diese implementiert werden sollen, in Zweifel gezogen und attackiert werde, gibt die französische Expertin zu bedenken. "Wir sind heute in einer weitaus schlimmeren Situation als wir es je zuvor waren, außer wahrscheinlich während der Weltkriege", warnt Callamard.
Das liege einerseits an lange bekannten Tatsachen wie der weltweiten Ungleichheit oder dem Klimawandel, andererseits an kurzfristigen Trends wie etwa der "Restrukturierung des internationalen politischen Systems, dem Kampf der Supermächte USA und China". Gepaart mit Globalisierung und einem "Wirtschaftssystem, das nicht das abgeliefert hat, was die Menschen erwartet haben, ist das der perfekte Sturm für Menschenrechte".
Die Coronakrise habe ihr Übriges getan. Callamard: "Die Pandemie hat all das aufgezeigt, was falsch läuft im Management der Politik von Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Es hat zum Beispiel gezeigt, wie wir das öffentliche Gesundheitssystem vernachlässigt haben und dass die Schwächsten oft am stärksten betroffen sind."
Hinzu kommt nach Worten der neuen Amnesty-Chefin, dass für ihre Organisation derzeit weltweit kein einziges Land ein verlässlicher Partner sei. Zwar könne man in manchen Angelegenheiten noch auf die EU oder die USA, früher Vorbilder in Sachen Menschenrechte, zählen, doch lieferten beide keine gute Performance, so Callamard mit Blick auf die Entwicklungen in den USA unter dem früheren Präsidenten Donald Trump. Und auch die EU stehe nicht mehr für die "Werte, auf denen sie aufgebaut wurde" und scheine derzeit mehr an der Wirtschaft als an anderem interessiert, kritisiert die 57-Jährige. Als "extrem besorgniserregend" bezeichnete sie die Entwicklungen etwa in Ungarn oder in Polen.
In Österreich sieht Callamard die gleichen Herausforderungen wie in vielen anderen EU-Staaten auch. So gebe es etwa strukturelle Probleme in Sachen Migration und bei der Behandlung von Asylwerbern. Amnesty Österreich hat etwa Abschiebungen nach Afghanistan wiederholt kritisiert. Im Zuge der Pandemie hätten außerdem für einige Demonstrationen "unnötige und unverhältnismäßige Einschränkungen" gegolten. Als problematisch sieht Callamard auch den Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie in der Strafverfolgung. "Ich erwarte mehr von Österreich, genauso wie ich das von anderen Staaten erwarte, die Menschenrechte in Europa mitaufgebaut haben."
Der Kampf zwischen den USA und China um die weltweite Vormachtstellung sei besonders gefährlich, führe er doch zu Instabilität und einem Rüstungswettlauf und neuen Formen der Kolonisierung. Im schlimmsten Fall komme es in solchen Duellen zum Stellvertreter- oder einem richtigen Krieg, so Callamard. Als weitere, ganz aktuelle Sorgenkinder nennt die Amnesty-Generalsekretärin Brasilien, Kolumbien, Indien, Mynamar, den Nahost-Konflikt, China/Xinjiang und Äthiopien/Tigray.
Ob sie trotz der sich verschlechternden Situation zuversichtlich ist? "Ich glaube an die Zivilgesellschaft", betont Callamard. "Es liegt an uns, Brücken zu bauen." Der Mut der vielen Menschenrechtsaktivisten, deren Zahl ihren Worten zufolge stetig steigt, sei unglaublich und inspiriere sie tagtäglich, ihre Arbeit trotz Gefahren und Herausforderungen zu machen.