Die EU hat die erzwungene Landung eines Linienflugs durch weißrussische Behörden in Minsk scharf verurteilt und verschiedene Sanktionen in Aussicht gestellt. Darunter sind Sanktionen gegen die Verantwortlichen des Vorfalls sowie ein Landeverbot für die weißrussische Fluggesellschaft Belavia an allen EU-Flughäfen, wie es am Montag aus EU-Kreisen hieß. Zudem könnten demnach alle Überflüge von EU-Airlines über Weißrussland ausgesetzt werden.
Mehrere Fluggesellschaften kündigten bereits an, den weißrussischen Luftraum zu meiden. Auch die Austrian Airlines reagierten: Gewöhnlich wird der Flug OS6001 von Wien nach Moskau über Brest und südlich von Minsk in die russische Hauptstadt geführt. Laut Onlinedienst flightradar24.com vermied der Flug am Montag jedoch den weißrussischen Luftraum und landete über die Slowakei und Ukraine kommend am frühen Nachmittag in Moskau-Domodedowo. Anders agierte das Mutterunternehmen Lufthansa: Flug LH1444 aus Frankfurt nach Moskau kreuzte auch am Montag wie gewöhnlich Weißrussland.
Zudem forderte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Montag im Namen aller 27 EU-Staaten die sofortige Freilassung des Journalisten Roman Protassewitsch. Dessen Festnahme sei ein weiterer offenkundiger Versuch der weißrussischen Behörden, alle oppositionellen Stimmen zum Schweigen zu bringen.
Flugzeug der Ryanair zur Landung gezwungen
Behörden der autoritär regierten Republik Weißrussland (Belarus) hatten am Sonntag ein Flugzeug auf dem Weg von Athen nach Vilnius in Litauen zur Landung gebracht, wie die Fluglinie Ryanair bestätigte. An Bord der Maschine war nach Angaben des Menschenrechtszentrums Wesna auch der vom weißrussischen Machthaber Alexander Lukaschenko international gesuchte Blogger Roman Protassewitsch, der demnach in Minsk festgenommen wurde.
Bei der erzwungenen Notlandung des Ryanair-Flugs in Minsk soll Protassewitsch schnell klar geworden sein, dass die Aktion ihm gilt. Das berichtete am Montag ein Passagier dem griechischen TV-Sender Mega. "Als ich hörte, dass das Flugzeug nach Weißrussland zurückkehrt, sah ich seine Reaktion. Er legte die Hände über den Kopf, als wüsste er, dass etwas Schlimmes passieren würde", gab der Grieche Nikos Petalis per Videokonferenz aus Vilnius zu Protokoll. Protassewitsch habe gleich verstanden, dass die Notlandung ihm gilt.
Protassewitschs Vater Dmitri zeigte sich im Interview des weißrussischen Radiosenders Radio Swoboda überzeugt, dass es sich um eine sorgfältige Operation "wahrscheinlich nicht nur von den Geheimdiensten von Belarus" handelte. Russland ist enger Verbündeter von Belarus. Sein Sohn war demnach auf der Rückreise von einem Griechenland-Urlaub in die litauische Hauptstadt Vilnius, als Lukaschenko das Flugzeug zur Landung zwingen ließ. Er selbst habe nicht gewusst, wann sein Sohn fliege. Dmitri Protassewitsch sprach von einem "Terrorakt" des Machthabers Lukaschenko.
Sanktionen werden geprüft
Mit diesem erzwungenen Vorgehen hätten die weißrussischen Behörden die Sicherheit der Passagiere und der Crew gefährdet, sagte der EU-Außenbeauftragte Borrell. Der Vorfall müsse eine internationale Untersuchung zur Folge haben. Die Situation werde auch Thema beim EU-Sondergipfel, der am Montagabend in Brüssel beginnt. Die EU werde die Folgen dieser Handlung prüfen, einschließlich "Maßnahmen gegen die Verantwortlichen".
Litauen setzt nach der erzwungenen Landung eines Ryanair-Flugzeugs in Weißrussland und der dortigen Festnahme eines Oppositionellen ebenfalls auf eine gemeinsame Antwort des Westens. Außenminister Gabrielius Landsbergis erklärte am Sonntagabend, er habe mit dem stellvertretenden US-Außenminister Philip Reeker über den Vorfall gesprochen. Es sei darüber diskutiert worden, "dass das beispiellose Ereignis eine starke transatlantische Reaktion finden muss".
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte zuvor von einer "Entführung" der Maschine durch Weißrussland gesprochen, die sanktioniert werden müsse. "Die Europäische Union darf nach der erzwungenen Landung eines kommerziellen Flugzeugs zur Verhaftung eines Journalisten in Belarus nicht zur Tagesordnung übergehen, denn das ist absolut inakzeptabel", erklärte Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) im Vorfeld des EU-Gipfels. "Daher unterstütze ich eine Behandlung von Belarus beim Europäischen Rat", sagte Kurz in einem Statement gegenüber der APA. EU-Ratspräsident Charles Michel erklärte am Sonntagabend, der Vorfall werde bei dem Gipfel diskutiert, er deutete auch mögliche Sanktionen an. "Der Vorfall wird nicht ohne Konsequenzen bleiben", schrieb Michel.
Lukaschenko müsse für seine "haarsträubenden" Handlungen zur Verantwortung gezogen werden, sagte der britische Außenminister Dominic Raab einer Mitteilung vom Montag zufolge. "Das Vereinigte Königreich arbeitet mit seinen Verbündeten an einer koordinierten Reaktion, einschließlich weiterer Sanktionen."
Auch die US-Regierung verurteilte die von den Behörden in Weißrussland erzwungene Landung des Passagierflugzeugs und anschließende Festnahme eines Bloggers scharf. US-Außenminister Antony Blinken schrieb am Sonntagabend (Ortszeit) auf Twitter mit Blick auf den weißrussischen Machthaber Alexander Lukaschenko, es habe sich um eine "dreiste und schockierende Tat des Lukaschenko-Regimes" gehandelt. "Wir fordern eine internationale Untersuchung und stimmen uns mit unseren Partnern über die nächsten Schritte ab. Die Vereinigten Staaten stehen an der Seite der Menschen in Belarus."
Moskau spricht von Heuchelei des Westens
Die Sprecherin des russischen Außenministerium, Marija Sacharowa, mokierte sich indes am Montag über westliche Reaktionen und verglich die aktuelle Zwangslandung implizit mit dem Fall von Boliviens Präsidenten Evo Morales, dessen Flugzeug 2013 nach dem Entzug von Überflugrechten in Frankreich und Portugal und im Zusammenhang mit der Vermutung, US-Whistleblower Eduard Snowden könnte an Bord sein, einen ungeplanten Zwischenstopp in Wien-Schwechat eingelegt hatte.
Es schockiere, schrieb Sacharowa auf Facebook, dass der Westen den Vorfall im weißrussischen Luftraum als "schockierend" bezeichne. Entweder müssten alle derartige Ereignisse verstören, auch die "erzwungene Landung des Flugzeugs des bolivianischen Präsidenten in Wien auf Verlangen der USA" und eine Causa in der Ukraine 2016, oder vergleichbare Vorfälle, für die andere Staaten verantwortlich seien, dürften gar nicht verstören. Kremlsprecher Dmitri Peskow mahnte am Montag in Moskau der Agentur Interfax zufolge eine "nüchterne Bewertung" des Vorfalls ein.
"Ich bin sicher, dass wir in dieser Angelegenheit in der Lage sind, volle Transparenz zu gewährleisten", sagte der Sprecher des Außenministeriums in Minsk, Anatoli Glas, am Montag. Wenn nötig, sei Weißrussland auch bereit, "Experten zu empfangen" und Informationen offenzulegen, um Unterstellungen zu vermeiden. Beobachter sehen darin den Versuch, das weitgehend isolierte Land international ins Gespräch zu bringen. Zugleich verteidigte der Sprecher das Vorgehen der Behörden in der Ex-Sowjetrepublik und wies Kritik aus der EU als "bewusste Politisierung" zurück. Es müsse alles in Ruhe analysiert und auf "die Schlussfolgerungen kompetenter Experten" gewartet werden, riet er.
Ermittlungen eingeleitet
Die litauische Staatsanwaltschaft leitete noch am Sonntag eine strafrechtliche Untersuchung der Vorgänge ein. Dabei gehe es unter anderem um die mögliche Entführung eines Flugzeugs zu terroristischen Zwecken und den Verstoß gegen internationale Verträge, teilten die Behörden mit. Litauens Regierungschefin Ingrida Simonyte erklärte, mehrere Personen, die am Sonntagabend mit dem Flugzeug im litauischen Vilnius landeten, seien unmittelbar um eine Aussage gebeten worden.
Die EU hat bereits Sanktionen gegen Weißrussland im Zusammenhang mit der umstrittenen Wiederwahl von Präsident Alexander Lukaschenko und seinem harten Vorgehen gegen Regierungsgegner verhängt. Weitere Maßnahmen gegen hochrangige Vertreter aus Weißrussland waren zudem in Planung. Laut einem EU-Vertreter von Sonntagabend könnte nun zudem der belarussischen Airline Belavia die Landung auf Flughäfen in der EU untersagt und jeglicher Transit-Verkehr von Weißrussland in die EU ausgesetzt werden. Zudem könnten Flüge von EU-Airlines über Weißrussland ausgesetzt werden.
Keine Spur von Blogger
Auch einen Tag nach der international verurteilten Aktion gibt es zum Verbleib des festgenommenen Oppositionsaktivisten und Bloggers keine offiziellen Angaben. Mehrere Passagiere des Ryanair-Flugs bestätigten Medien in Litauen nach ihrer Landung die Festnahme des 26-Jährigen. Protassewitsch, der in seiner Heimat unter anderem wegen Anstiftung zu Protesten gegen Lukaschenko zur Fahndung ausgeschrieben war, hatte im Exil in Litauen gelebt. Ihm drohen in Weißrussland viele Jahre Haft.
Moskau zufolge ist auch eine russische Staatsbürgerin in Polizeigewahrsam. Sie sei in Begleitung Protassewitschs gewesen, sagte Außenminister Sergej Lawrow am Montag laut Interfax. Es gebe eine entsprechende Mitteilung der Behörden, teilte die russische Botschaft in Minsk später auf Facebook mit.
"Wir arbeiten in dieser Frage mit der belarussischen Seite zusammen." Man erwarte in naher Zukunft einen konsularischen Zugang zu der Frau. Gründe für die Festnahme wurden nicht genannt. Nach Angaben Lawrows war sie in Begleitung des festgenommenen Bloggers Roman Protassewitsch. Er sprach von einer "Bekannten" des Oppositionsaktivisten, der am Sonntag am Flughafen in Minsk in Haft kam. Mehrere Medien schrieben, dass es sich um die Freundin des Bloggers handeln soll.
Österreicher war im Flugzeug
Das Außenministerium in Wien bestätigte gegenüber der APA, dass sich auch ein österreichischer Staatsbürger auf der Passagierliste befunden habe. Das Außenministerium forderte auf Twitter "eine unabhängige internationale Untersuchung dieses Vorfalls" und die dringende Freilassung Protassewitschs. "Spürbare Konsequenzen" für den Machtapparat in Weißrussland forderte die außenpolitische Sprecherin der Grünen, Ewa Ernst-Dziedzic. Eine Untersuchung der Rolle Russlands verlangten der NEOS-Außenpolitiksprecher Helmut Brandstätter und die NEOS-EU-Abgeordnete Claudia Gamon. Der ÖVP-EU-Abgeordnete Lukas Mandl kritisierte das Verhalten des Lukaschenko-Regims als "immer unverschämter", EU-Parlamentsvizepräsident Othmar Karas (ÖVP) forderte harte Sanktionen gegen das Regime.