Der steigende Migrationsdruck auf die Staaten an der Grenze des Schengen-Gebiets sei mit dem Abflachen der Corona-Krise und dem Beginn des Sommers zu erwarten gewesen, sagte Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) im "Journal zu Gast" auf Ö1. Seit der Migrationskrise 2015 habe die EU aber eine enorme Lernkurve hingelegt. Momentan verhandle man einen neuen Pakt zu Asyl und Migration. "Solange es diesen Pakt nicht gibt, sieht man, dass sich die Diskussion leider immer wieder wiederholt", so Schallenberg. Eine Verteilung der Migranten sei aber weiterhin nicht die Lösung, betonte der Außenminister. Es könne nicht sein, dass sich ein Gutteil der 27 EU-Staaten komplett aus dem System verabschiede und überhaupt nichts beitragen wolle, während fünf bis zehn Staaten, darunter Österreich, die ganze Last zu schultern hätten.
Kooperation mit Herkunftsländern
Man müsse sich nun den Außengrenzschutz, die Migrationspartnerschaften mit Transitländern und die Zusammenarbeit in der Entwicklungszusammenarbeit mit den Herkunftsändern der Migranten anschauen, so Schallenberg. "Das ist das große Problem, dass das ein mehrstöckiges Gebäude ist, das man nur gleichzeitig bauen kann und wo es nichts nützt beim dritten Stock, nämlich der EU-internen Frage der Solidarität anzusetzen, solange man nicht Stock eins, die Frage der Kooperation mit Herkunftsländern und Stock zwei, den Außengrenzschutz, wirklich stabil hingestellt hat."
Dass Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) auf europäischer Ebene als jemand wahrgenommen werde, der innenpolitisch punkten wolle, sehe er überhaupt nicht so, meinte Schallenberg auf eine entsprechende Frage. Kurz sei vielmehr seit Wolfgang Schüssel der erste Bundeskanzler, "dem es gelingt österreichische Anliegen wieder zum Thema zu machen". Man würde der europäischen Debatte "nichts Gutes tun, wenn wir sie in Watte halten wollen", so Schallenberg.
Israelische Flagge als Zeichen der Solidarität
Der Außenminister hat am Samstag das Aufziehen der israelischen Flagge am Bundeskanzleramt und am Außenministerium als Reaktion auf die Eskalation im Nahost-Konflikt verteidigt. "Es war ein ganz bewusstes Zeichen der Solidarität angesichts der über 3.000 Raketen, die von einer Terrororganisation, nämlich Hamas, wahllos auf israelisches Gebiet losgelassen wurden", erklärte Schallenberg.
Die Hamas habe versucht das Gesetz des Handelns an sich zu reißen und sich als Vertreter aller Palästinenser zu präsentieren. Vor diesem Hintergrund sei es "ein richtiges Zeichen" gewesen, so Schallenberg, ändere aber nichts an der grundsätzlichen Haltung Österreichs zum Nahostkonflikt. "Wir wollen eine verhandelte Zwei-Staaten-Lösung" und eine Situation, "wo Palästinenser und Israelis in Frieden leben können", betonte der Außenminister. Das Hissen der israelischen Flagge sei jedoch "kein Zeichen der De-Solidarisierung mit Palästina". "Von wem die erste Idee dazu gekommen ist, ich glaube vom Bundeskanzleramt, ist sekundär", so Schallenberg.
Der Grüne Koalitionspartner der ÖVP sieht das Hissen der Flagge Israels indes weiter kritisch. Diese Aktion sei nicht Teil der gemeinsamen Außenpolitik von Türkis-Grün gewesen, hieß es. "Insbesondere angesichts der Komplexität des Konflikts sind überhastete demonstrative Akte, die das Vertrauen in Österreich als besonnenen, weitsichtigen und neutralen Vermittlerstaat schwächen, nicht zielführend", sagte Ewa Ernst-Dziedzic, die außenpolitische Sprecherin der Grünen gegenüber der APA.
Westbalkanstaaten einbinden
Anlässlich seiner Reise am Wochenende nach Nordmazedonien und Albanien verwies Schallenberg darauf, dass die Teilung des Kontinents erst endgültig überwunden sei, "wenn auch alle Staaten Ex-Jugoslawiens Vollmitglieder der Europäischen Union sind". Schallenberg und seine Amtskollegen aus Slowenien, Anže Logar, und Tschechien, Jakub Kulhánek, haben am Samstag bei einem Besuch in Skopje ein Bekenntnis zur EU-Erweiterung am Westbalkan abgelegt. "Die europäische Integration ist ohne die sechs Westbalkanländer nicht komplett", sagte Schallenberg nach einem Treffen mit dem nordmazedonischen Außenminister Bujar Osmani. Am Sonntag sind Gespräche in Albanien geplant.
Den gemeinsamen Auftritt mit Slowenien und Tschechien bezeichnete Schallenberg als eine "starke zentraleuropäische Initiative. Wir brauchen einen Deal und wir wollen einen Deal." Der Westbalkan dürfe keine "vergessene Region" werden", warnte Schallenberg auch in Bezug auf Bosnien-Herzegowina, Serbien, den Kosovo und Montenegro. Gemeinsam mit Logar und Kulhánek führte er zudem Gespräche mit Staatspräsident Stevo Pendarovski, Regierungschef Zoran Zaev sowie Vizepremier und Europaminister Nikola Dimitrov.
Die gemeinsame Visite sei "ein klares Signal, dass Nordmazedonien und Albanien auf unsere Unterstützung zählen können", betonte Schallenberg bereits am Hinflug. Österreich gilt als Verfechter einer EU-Erweiterung am Westbalkan. "Wir brauchen in der EU nicht über geopolitische Strategien reden, wenn wir das in der unmittelbaren Nachbarschaft nicht auf die Reihe kriegen. Das ist politisch, wirtschaftlich und kulturell unsere Nachbarschaft", meinte der Außenminister. Zudem gebe es auch eine "menschlichen Brücke", weil rund 500.000 Menschen aus dieser Region etwa in Österreich leben würden.
Angespanntes Verhältnis zu Russland
Das Verhältnis zu Russland sei derzeit sicher angespannt, so Schallenberg. Österreich habe sich aber immer um einen Dialog zu Moskau bemüht, dennoch könne man nicht sein Wertefundament verlassen angesichts der "Kette von provokanten Akten, die Russland gegenüber der EU gesetzt hat", so Schallenberg.
Nur wenige Minuten nachdem die staatliche russische Nachrichtenagentur TASS Passagen aus dem Ö1-Interview referierte, widersprach die Sprecherin des russischen Außenministeriums, Marija Sacharowa, Schallenbergs Aussage. Es sei die Unwahrheit, dass die EU einen Dialog mit Moskau wolle, Signale aus Russland jedoch zeigten, dass man dies dort im Moment nicht wünsche, so Sacharowa. "Es gab viele politische, humanitäre und wirtschaftliche Projekte, an denen sich Russland und die EU beteiligt haben. Blockiert wurden sie jedoch nach dem Beschluss von antirussischen Sanktionen durch Brüssel und die Ersetzung eines Dialogs durch aggressive, unbegründete Anschuldigungen und Desinformationskampagnen", schrieb Sacharowa auf Facebook.