Kriegsnächte kann man ebenso wenig je vergessen wie die während so manchen von ihnen empfundene Angst. Das wissen die Bewohner des Gazastreifens ganz genau. „Die Nacht des 14. Mai brachte den reinen Terror“, sagt der 29-jährige Khalil Hammash. Er ist einer der Bewohner des palästinensischen Flüchtlingslagers Jabaliya, im Norden von Gaza.
„Noch nie in meinem Leben hatte ich eine derartige Menge an Feuer vom Himmel herunterregnen sehen. Die Explosionen waren äußerst heftig. Meine Kinder schrien und ich wusste nicht, wie ich sie beruhigen solle“, fährt Khalil fort. „Auch ich war in Panik. Mein Haus erbebte mehrmals und ich fürchtete, es würde über uns zusammenstürzen. Als es still wurde, war die Angst immer noch da, denn die Ruhe konnte von einer Sekunde auf die andere durch neue Explosionen unterbrochen werden”, sagt er und bezieht sich auf einen der heftigsten Bombenangriffe der israelischen Luftwaffe im Laufe einer einzigen Nacht. Die Militärs rechtfertigen diesen Dauerbeschuss mit der Notwendigkeit, das unterirdische Tunnelnetz zu zerstören, das von der radikalislamischen Hamas gebaut wurde, um ihren Männern zu ermöglichen, zu verschiedenen Punkten im Gazastreifen zu gelangen, damit sie ihre Raketen abfeuern und vor Luftangriffen Schutz suchen können.
Es gibt kaum Arbeit
Khalil sagt, dass er von einem derartigen Tunnelsystem noch nie etwas gehört hat. „Ich bin Bauarbeiter“, berichtet er telefonisch aus Gaza, „ich verdiene meinen Lebensunterhalt damit, mir kleinere Arbeiten zu suchen, Reparaturen in Häusern und Wohnungen, um genügend Geld für meine Familie nach Hause zu bringen. In Gaza gibt es jedoch kaum Arbeit, wir sind sehr arm und leben von humanitärer Hilfe, von etwas Geld von karitativen Einrichtungen. Um Politik kümmern wir uns nicht und vertrauen jeden Tag unser Leben Gott an.“ Worte, die von einem großen Teil der über zwei Millionen Bewohner des Gazastreifens stammen könnten, die seit dem 10. Mai gezwungen sind, eine weitere zerstörerische Großoffensive nach jenen von 2008, 2012 und 2014 mitzuerleben.
Die Luftangriffe verschonen keinen Teil des Gazastreifens, betreffen aber besonders Khan Yunis und Rafah im Osten, im Norden das Viereck Beit Hanun, Beit Lahya, Sheikh Zayed und Umm al Nasser, von wo aus laut den israelischen Behörden die meisten Raketen gegen die Städte im Süden des Landes abgefeuert werden. Im Dunkel der Nacht, das nur von den Explosionen erhellt wurde, haben in den vergangenen Tagen mehr als 40.000 palästinensische Zivilisten ihre Häuser verlassen, als sie an der nahen Grenzlinie die Panzer und die Artillerie der Israelis bemerkten. Alle dachten an den Beginn einer Offensive zu Lande, die aber nicht erfolgte. Dennoch befinden sie sich zusammengepfercht in den Schulen der UNRWA (UN-Hilfswerk für Palästina-Flüchtlinge).
Die nächtlichen Luftangriffe haben Tod und Zerstörung über das Beduinendorf Umm al Nasser gebracht, wo eine ganze Familie samt mehreren Kindern und der schwangeren Mutter ausgelöscht wurde. In den Tagen darauf verbesserte sich die Situation nicht, das ganze Gebiet befindet sich in humanitärem Notstand.
450.000 Menschen in Not
Aufgrund der anhaltenden Bombardements befinden sich 450.000 Menschen in großer Not, berichtet die NGO Oxfam. Sie brauchen Nahrung, sauberes Wasser, Toiletten und Unterstützung bei der sicheren Unterbringung wenigstens der Kinder. Viele Brunnen und Pumpstationen, die für die Bewohner des Gazastreifens die einzige Möglichkeit darstellen, an Trinkwasser zu gelangen, sind durch die Bombardements beschädigt. Laut lokaler Behörden handelt es sich um 40 Prozent der Wasserversorgung.
Und es gilt auch, an die Verbreitung von Corona zu denken. In den vorigen Tagen wurde das Zentrallabor, das die Abstriche analysiert und dazu beiträgt, die Ansteckungsgefahr im Gazastreifen in den Griff zu bekommen, getroffen und schwer beschädigt. Unter den Opfern eines massiven Luftangriffes auf drei Gebäude in Gaza befindet sich auch Ayman Abu al Ouf, einer der engagiertesten Ärzte im Kampf gegen das Virus, das im Gazastreifen bereits Hunderte Menschen das Leben kostete. Aus den Trümmern wurde auch ein weiterer Arzt tot geborgen.
Laut den lokalen Behörden wurden durch die Luftangriffe seit dem 10. Mai im gesamten Gazastreifen mindestens 32 Hochhäuser zerstört, darunter der Al-Jalaa-Turm, wo der Fernsehsender Al Jazeera und die Nachrichtenagentur AP ihre Büros hatten, mit Hunderte von Wohnungen, Ämtern, Polizeistationen und Banken. Die Stadtverwaltung sieht sich nicht in der Lage, die Trümmer wegzuschaffen, die Wasserversorgung sicherzustellen und das Kanalnetz zu reparieren. Auch das Stromnetz ist beschädigt, die Kommunikation unterbrochen. „In einigen Teilen von Gaza“, so ist man sich einig, „hat sich das Stadtbild verändert, man kann sich nur mehr schwer zurechtfinden. Häuser, die man zu sehen gewohnt war, existieren nicht mehr“.
Die Zahl der Toten übersteigt 220, die der Verletzten 1500, die Spitäler sind überfüllt und wegen des Mangels an Treibstoff, Strom und Wasser am Rande des Kollapses. Zur humanitären Krise ist die des Gesundheitswesens dazugekommen, sagt UNRWA-Sprecher Adnan Abu Husna. In den UN-Einrichtungen fanden Tausende Schutz. „Die Lage ist ausgesprochen gefährlich“, so Abu Husan, „in den Schulen, in denen sie untergebracht sind, gibt es keine angemessenen hygienischen Bedingungen.“ Er befürchte Seuchen.
Yihia Saraj, Bürgermeister von Gaza, sagt, dass Dutzende Gebäude einsturzgefährdet sind, da sie an der Basis von äußerst durchschlagskräftigen Bomben und Raketen getroffen wurden, die sich bis zu 15 Meter in den Boden bohrten. „Letzte Woche“, erinnert sich Khalil Hammash, bevor er das Telefongespräch beendet, „freuten sich meine Kinder auf die Geschenke, die die Kleinen zum Ende des Ramadans üblicherweise bekommen – bekommen haben sie einen Krieg, und ich fürchte, es wird nicht der letzte sein“.
Michele Giorgio aus Jerusalem