Pünktlich zum Feiertag meldete sich Cem Özdemir zu Wort. „Boris Palmer sprengt jede Brücke“, sagte der Spitzen-Grüne aus Baden-Württemberg und merkte zum Ausschlussverfahren gegen den Parteikollegen nur an: „Es blieb uns nichts anderes übrig.“

Harte Sätze. Sie fallen nicht nur von Özdemir. Auch der am Mittwoch wiedergewählte baden-württembergischen Grünen-Ministerpräsident Winfried Kretschmann ging auf Distanz. Trotz steter Querelen wurde Palmer in Stuttgart bis zuletzt als Landesminister gehandelt, wie Özdemir im Interview mit der FAZ bestätigte. Vorbei. Palmer, ehemaliger Fraktionschef der Grünen im Stuttgarter Landtag, derzeit Oberbürgermeister der Universitätsstadt Tübingen und ewiger Unruhestifter, droht der Rauswurf.

"Bum-Bum-Boris"

In einer Debatte über den afro-deutschen Ex-Nationalspieler Dennis Aogo wollte Palmer für diesen Partei ergreifen. Er tat dies mit Ironie und indem er ein N-Wort benutzte. Das war vielen dann doch zu viel. „Er ist Politiker“, giftete Kretschmann und entzog den väterlichen Schutz. Palmer wird zur Belastung für die Grünen im Bundestagswahlkampf. Und so droht „Bum-Bum-Boris“ das Aus.

Die Grünen sind mit ihren Störenfrieden nicht allein. Auch die anderen großen Parteien haben Problembären in den eigenen Reihen. Die Union kämpft mit dem früheren Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen. Der Vertreter der konservativen Werteunion wurde trotz Warnungen der Bundespartei in Thüringen als Direktkandidat für die Wahl zum Bundestag am 26. September nominiert. Schon tobt die Debatte – nicht nur um Maaßen.

Der sächsische Bundestagsabgeordnete Marco Wanderwitz, Ostbeauftragter der Bundesregierung mit Segen von Kanzlerin Angela Merkel, erklärte: Er würde „Maaßen nicht in ein Parlament wählen“. Umgehend wurden im Osten Deutschlands Rücktrittsforderungen laut – gegenüber Wanderwitz.

Auch die SPD tut sich schwer. Ausnahmsweise nicht mit Personalfragen. Die sind geklärt. Es ist überraschend still in der Partei. Selbst Kanzlerkandidat Olaf Scholz bleibt von Debatten über die Rolle seines Ministeriums bei der fehlenden Kontrolle im Skandal um den Finanzdienstleister Wirecard verschont. Auch um Steuerdeals aus seiner Hamburger Zeit bleibt es ruhig. Die größte Sorge der Sozialdemokraten sind die mäßigen Umfragewerte: Die Partei verharrt konstant bei weit unter 20 Prozent.

Für keine Partei sind die internen Probleme aber so gefährlich wie für die Grünen. Die Causa Palmer ist der größte anzunehmende Kollateralschaden. In Umfragen liegt die Partei vor der Union. Da stören Querschüsse.

Palmer, 48, ist als steter Unruheherd bekannt. Der studierte Mathematiker warb für Schwarz-Grün, als das noch ein Sakrileg war. Als Oberbürgermeister von Tübingen entschied er sich für einen Hybrid als Dienstwagen aus japanischer Produktion, weil deutsche Hersteller damals nicht konkurrenzfähig waren. Ein Affront mitten im Autobauerland. Auch sonst eckte Palmer gern an. In der Uni- und Forschungsstadt Tübingen sprach er sich für Tierversuche aus, die Parteilinke zürnte. In der Flüchtlingspolitik ging Palmer früh auf Konfrontation zu Angela Merkel – und zur eigenen Partei. „Wir können nicht allen helfen“, lautet der provokante Titel seines Buches.

Spätestens da war Palmer der Lieblingsgegner des linken Grünen-Flügels. Da nutzte es wenig, dass Palmer sich mit seiner Tübinger-Linie in der Corona-Krise – viel testen, früh öffnen – Respekt über Parteigrenzen hinweg erwarb.

Palmers Problem ist nicht allein seine Liebe zum Widerspruch. Es ist auch die Sprache. Zu oft zu undiplomatisch, zu oft zu unelegant. Eine Entschuldigung für seine fürchterlichen Äußerungen im Fall Aogo lehnte Palmer ab. Das sei „Teil der Empörungsrituale, mit denen versucht wird, Leute mundtot zu machen“, sagte er im Interview mit der „Zeit“ und fügte hinzu: „Es geht hier um viel Größeres. Es geht um die Cancel-Culture, in der ich eine ernsthafte Bedrohung für die offene Gesellschaft sehe.“

Palmer inszeniert sich zum Vorkämpfer für Meinungsfreiheit. Für die Grünen geht es um mehr. Die Partei, die sich unter Annalena Baerbock und Robert Habeck der breiten Gesellschaft öffnete, steht plötzlich vor einer längst überwunden geglaubten Frage: Wie radikal soll’s denn bitte sein? Der Fall Palmer ist plötzlich ein Lackmustest für die Regierungsfähigkeit der Grünen.