Um in den Widerstand zu gehen, braucht man einen „harten Geist und ein weiches Herz“, sagte Sophie Scholl. Auch die Menschen in Weißrussland erleben derzeit massive Repression. Woher wussten Sie so klar, dass Sie in Widerstand zum Regime Alexander Lukaschenkos stehen?
JULIA CIMAFIEJEVA: Es war ein Prozess. Ich war zwölf Jahre alt, als Lukaschenko an die Macht kam. Und damals, ganz am Anfang, war ich fasziniert von ihm – von seiner emotionalen, scharfen Art zu sprechen; er versprühte Enthusiasmus, aber auch etwas Grobes. Manchmal kann das Grobe die schwachen Seelen anziehen, und ich war noch ein Kind. Doch es dauerte nicht lange, bis ich begann wahrzunehmen, dass unsere Freiheiten immer weniger wurden, dass Leute, die protestierten, von der Polizei auf den Straßen verjagt und verprügelt wurden. Und das begann vor vielen Jahren. Schon als Studentin war klar für mich: Da mache ich nicht mit. Da gehe ich in Opposition dazu. Zugleich möchte ich betonen: Ich sehe mich nicht als Heldin oder etwas Besonderes. Ich sehe in Weißrussland heute viele Frauen und Männer, die sehr viel mutiger sind als ich.
Lukaschenko hat auf die Proteste 2020 mit roher Gewalt reagiert. Wer sich widersetzt, muss damit rechnen, verhaftet zu werden, Folter ausgesetzt zu sein, die eigene Gesundheit zu verlieren oder getötet zu werden. Wie trifft man da die Entscheidung zum Widerstand?
Das ist ein komplexer Prozess. Politische Häftlinge, Verfolgung und Todesfälle gab es viele Jahre lang. Aber im August 2020 wurde das plötzlich viel größeren Bevölkerungskreisen klar. Ab 9. August sahen wir die unglaubliche Brutalität der Polizei in den Straßen. Diese überschritt alles, was viele bis dahin für möglich gehalten hatten. Wir waren unglaublich wütend. Die Menschen stehen auf gegen die Absurdität dieser brutalen Gewalt. Im Grunde geht es dabei gar nicht nur um Lukaschenko, sondern es ist ein absolutes Nein zur Inhumanität. Dazu kommt das Gefühl von Solidarität: fast 300.000 Menschen gemeinsam in den Straßen, um faire Wahlen einzufordern. Dennoch kam dann immer mehr Repression. Zu diesem Zeitpunkt war uns schon klar: Wir werden nicht mehr so leben können wir zuvor. Es gibt kein Zurück mehr. Diese Gewalt ist unverzeihlich. Und dieses Gefühl war es, das uns den Mut gab, weiter auf die Straßen zu gehen – trotz des hohen Risikos, festgenommen und gefoltert zu werden.
Dennoch: Manche wehren sich, und andere nicht.
Es ist auch sehr menschlich, sich zu fürchten. Manche haben Angst, ihre Stimme zu erheben. Auch ich tue mir jetzt leichter, auszusprechen, was ich denke, weil ich im Moment nicht in Weißrussland bin. Zumindest im Moment muss ich nicht fürchten, dass die Polizei frühmorgens an unserer Türe läuten wird, um uns abzuholen. Man braucht innere Stärke, um gegen so einen Druck aufzustehen. Und vielleicht muss man auch desillusioniert sein. Erwachsen. Und den Wert von Solidarität verstehen – wie wichtig es ist, einander zu unterstützen und nicht zynisch zu werden.
Hat der Widerstand gegen Lukaschenko Sie verändert?
Ich würde sagen, der Widerstand hat mich geformt. Er wurde Teil meiner Persönlichkeit, weil er schon so lange notwendig ist. Wenn ich nicht zustimme, kann ich das nicht einfach übergehen. Lügen will ich nicht mittragen. Meine Werte und Grenzen, die nicht überschritten werden dürfen, haben sich dadurch herausgebildet.
Simone de Beauvoir sagt, der Mensch sei fähig zum Widerstand, wenn er sich andere Welten vorstellen könne als die, in der er sich befindet. Haben Sie eine Vision für Weißrussland?
Ich habe viele Länder bereist, und für mich ist klar, dass es ein anderes Leben gibt, und eine andere Art der Kommunikation zwischen einer Regierung und der Bevölkerung, auch ganz grundsätzlich zwischen den Menschen – ich meine Demokratie. Auch Demokratien haben ihre Schwächen, darüber mache ich mir keine Illusionen. Dennoch macht es Sinn, dass wir in Weißrussland dafür kämpfen.