Großbritannien hat die Wahl: Heute stehen in Schottland und Wales Parlamentswahlen an, in England wird auf kommunaler Ebene gewählt, so etwa der Bürgermeister von London.
„Diese Wahlen sind wie eine Wetterstation: der erste Gradmesser, der über die Beliebtheit der Johnson-Regierung seit der Parlamentswahl Ende 2019 Auskunft gibt“, erklärt uns die britische Politologin Melanie Sully. Es sei auch die Nagelprobe für Keir Starmer, der nach Jeremy Corbyn die Labour Partei führt, sagt Sully.
Besonders spannend sei die Nachwahl in der nordenglischen Küstenstadt Hartlepool, bei der ein neuer Parlamentsabgeordneter bestimmt wird: Seit dem Niedergang der Schiffbau- und Stahlindustrie in den 1960er- und 1970er-Jahren zählt Hartlepool stets zu den zehn ärmsten Gemeinden im Land. 2016 stimmten dort 70 Prozent für den Brexit.
Die Arbeitslosigkeit lag bereits vor der Pandemie bei rund 8 Prozent und ist damit fast doppelt so hoch wie im Landesdurchschnitt.
In der Krise ist die Arbeitslosigkeit noch weiter gestiegen. Hartlepool war jahrzehntelang in Labour-Hand, bekannt auch als „Red Wall“. Bis 2019, denn unter der Führung von Labour-Chef Jeremy Corbyn bröckelte diese Mauer.
„Die Labour Party hat nun in Hartlepool einen Arzt aus Süd-England als Kandidaten aufgestellt, der zwar für den Verbleib in der EU war, doch Labour hofft, dass jetzt der Brexit nicht mehr im Vordergrund steht, sondern die Gesundheitspolitik“, erklärt Sully, die im Südwesten Englands, in Bristol aufgewachsen ist. Im Norden Englands allerdings, in Hartlepool, werde sich zeigen, ob Keir Starmer die Labour Party aus der Versenkung zurückholen kann.
Sollten die Torys allerdings dort gewinnen, „werden die Probleme, mit denen Johnson aktuell konfrontiert ist“, von der Renovierung seiner Wohnung aus Steuergeldern bis hin zu Vorteilnahme, vom Tisch sein. „Er würde nach den Impf-Erfolgen in Großbritannien sein Sieger-Image behalten“, ist Sully überzeugt.
International liegt beim Superwahltag in Großbritannien besonderes Augenmerk auf Schottland. 5,5 Millionen Wähler sind heute dort aufgerufen, ein neues Regionalparlament zu wählen. Niemand zweifelt daran, dass die seit 14 Jahren regierende Schottische Nationalpartei SNP erneut gewinnen wird. Die Frage ist allerdings, wie hoch, denn mit einem eindeutigen Mandat der Wähler und Wählerinnen im Rücken wird Regierungschefin Nicola Sturgeon wie schon angekündigt „alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Schottland in die Unabhängigkeit zu führen“.
Im Jahr 2014 stimmten 55 Prozent der Schotten mit Nein für eine Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich. Beim Brexit-Referendum 2016 entschieden sich allerdings 62 Prozent der schottischen Wähler für einen Verbleib in der Europäischen Union.
Die SNP will ein unabhängiges Schottland, das seinen rechtmäßigen Platz neben anderen kleinen Staaten wie Irland, Dänemark und Finnland einnehmen soll und mehr Entwicklungspotenzial innerhalb der breiteren Architektur der EU hätte.
Für Melanie Sully ist klar: „Im Moment geht es nicht um die sofortige Unabhängigkeit. Aber wenn nun die SNP mit den anderen Parteien, die für ein zweites Referendum sind, die Oberhand nach der Wahl behält, kann Nicola Sturgeon London politisch unter Druck setzen.“ Denn der Wunsch nach der Unabhängigkeit Edinburghs wachse wie der „Frust auf London.“
Die Regierung in Westminster habe oft eine andere politische Couleur als Schottland und letztlich gehe es um eine ganz andere politische Kultur. In Schottland habe man ein Faible für den „Nanny State, der für alles sorgt und alle versorgt, von der Wiege bis zum Grab – das komplette Gegenteil des Tory-Thatcherismus“, erklärt Politologin Sully.
Seit dem Brexit ist viel vom Auseinanderbrechen des Königreichs die Rede. In Nordirland brechen die alten Konflikte auf, und gleichzeitig rückt die britische Provinz näher an die Republik Irland. In Wales hat die Unabhängigkeitsbewegung im Zuge der Pandemie an Stärke gewonnen. Und Schottland ist gespalten wie lange nicht, die Hälfte der Bevölkerung will die Unabhängigkeit, koste es, was es wolle.
Douglas Ross, Chef der Konservativen Partei in Schottland, plädiert dafür, das „Unabhängigkeitsgerede“ hintanzustellen, denn jetzt müsse der Comeback-Plan nach der Coronakrise höchste Priorität haben. Arbeit und Wirtschaft müssten im Fokus stehen, nicht die Frage, ob sich Schottland in Zeiten wie diesen abspalten soll.
Denn letztlich, so sieht es auch die britische Politologin Melanie Sully, hätten auch die eingefleischtesten Unabhängigkeitsbefürworter einsehen müssen, dass es den Impferfolg auf der Insel nur im Vereinigten Königreich geben konnte, einer der ältesten und erfolgreichsten Demokratien der Welt.