Nordirland feierte am Montag seinen 100. Geburtstag - und könnte, so meinen manche, die längste Zeit Teil des Vereinigten Königreichs gewesen sein. Schon in zehn Jahren könnte die derzeitige britische Provinz zur Republik Irland gehören, sagt der Politik-Professor Cathal McCall von der Queen's University Belfast gegenüber der APA voraus. "Die Dinge bewegen sich sehr schnell."
Auch die ganze Brexit-Causa habe ja erst vor vier oder fünf Jahren begonnen, und das habe "wirkliche Turbulenzen" zur Folge gehabt, "eine Verfassungskrise im Vereinigten Königreich" und auch Auswirkungen auf Irland und die irische Regierung, gibt der Experte für Grenzfragen zu bedenken. In der Politik seien Entwicklungen manchmal sehr schnell, und dann bewegten sich die Dinge über lange Strecken hinweg wieder sehr langsam. "Ich glaube, wir müssen uns auf ein paar heftige, schnelle Phasen einstellen, in denen die Dinge turbulent sind."
Sinn Fein im Aufwind
In einem Jahr, im Mai 2022, finden in Nordirland die nächsten Regionalwahlen statt. Erwartet werde dabei ein Sieg der irisch-nationalistischen Sinn Fein, "was für Unionisten kein freudiges Ergebnis wäre", sagt McCall. "Denn dann würde Sinn Fein den First Minister (Regierungschef) stellen." Auch habe die Alliance Party, die sich als weder nationalistisch noch unionistisch begreift, in den vergangenen Jahren viel Zulauf erhalten. "Sie sind jetzt in der politischen Arena ein bedeutender Player" - und die Partei sei "explizit offen für eine konstitutionelle Diskussion über ein vereinigtes Irland".
Natürlich sei es schwierig, "einen Zeitrahmen dafür anzugeben, aber ich wäre nicht überrascht, wenn es in zehn Jahren irgendeine Form von vereinigtem Irland geben würde", so McCall. "Das heißt nicht, dass Nordirland nicht mehr existieren würde - es könnte immer noch existieren, aber in einem gesamtirischen Rahmen, als regionale Einheit, als Regionalregierung, ziemlich so, wie es jetzt im Vereinigten Königreich existiert."
40 Prozent
In regelmäßig durchgeführten Befragungen gebe es zwar aktuell keine Mehrheit dafür, dass sich Nordirland von London lossage. Aber die Tatsache, dass die Umfragen oft sehr knapp ausfielen, mache Unionisten nervös. Über 40 Prozent der Befragten seien für gewöhnlich für und über 40 Prozent gegen einen Verbleib im Vereinigten Königreich, "und etwa zehn Prozent sind unentschlossen, und es sind die Unentschlossenen, über die sich die Leute Gedanken machen".
Auch in Sachen Demografie ist Nordirland im Wandel begriffen. Laut den derzeit aktuellsten Zahlen seien 48 Prozent der Bevölkerung Protestanten und 45 Prozent Katholiken. Doch eine neue Volkszählung habe bereits stattgefunden, "und wir erwarten, dass sie uns eine katholische Mehrheit zeigt, wenn die Ergebnisse später in diesem Jahr veröffentlicht werden".
Neue Debatten
Die Debatte darüber, wie die Zukunft Nordirlands aussehen könnte, habe längst begonnen - nicht nur auf akademischer Ebene. "Würde Nordirland in einem gesamtirischen Staat weiterbestehen? Würde es eine nationale Gesundheitsversorgung für die ganze Insel geben? Würde eine neue Fahne gebraucht? Wie würden die Beziehungen zu Großbritannien aussehen?" Über all das werde gesprochen, weil den Menschen sehr bewusst sei, "dass niemand gewusst hat, wie der Brexit aussehen würde, denn da gab es keine Debatte".
Als Hauptfolge des britischen EU-Austritts in der Provinz nennt McCall "die Schaffung der sogenannten Seegrenze zwischen Nordirland und Großbritannien", die dazu führe, dass sich Unionisten "von Großbritannien abgeschnitten" fühlten. Sie hätten das Gefühl, "verloren zu haben", weil die Regelung gewissermaßen als Preis dafür gesehen wird, dass die irisch-nordirische Grenze auch nach dem Brexit weiterhin offenbleiben kann.
Für diese Situation verantwortlich gemacht würden viele - ganz wesentlich aber die Vorsitzende der Unionistenpartei DUP und nordirische Regierungschefin Arlene Foster, die vor kurzem auch ihren Rücktritt angekündigt hat. Die wichtigste unionistische Partei verliere laut Umfragen dramatisch an Unterstützung. "Die ganze Brexit-Frage und ihre Unterstützung für den Brexit war ein Desaster für sie, denn beim Referendum hat dann eine Mehrheit in Nordirland für einen Verbleib in der Europäischen Union gestimmt, während die Zahlen landesweit eine knappe Mehrheit für den Austritt ergeben haben. Und ich glaube, das hat bei vielen Wählern ein Gefühl von Europäisch-Sein verstärkt."
Johnson hielt seine Versprechen nicht
Foster werde angekreidet, "dass sie Boris Johnson nicht zur Rechenschaft gezogen hat" - wobei viele auch dem britischen Premierminister selbst die Schuld an der derzeitigen Lage gäben, "weil sie der Meinung sind, dass er sie verkauft hat", so der Politik-Professor. "Er hat versprochen, dass es keine harte Grenze geben wird, keine irische Seegrenze, und jetzt gibt es eine." Das sei für unionistische Parteien in Nordirland freilich auch kein ganz unbekanntes Muster: "Sie setzen ihr ganzes Vertrauen in die britische Regierung, in das Mutter-Parlament, wie sie es sehen, nur um wieder und wieder enttäuscht zu werden."
Denn letzten Endes sei Nordirland "ein sehr kleiner, peripherer Ort, nicht im Blick von Westminister", so McCall. "Die Bevölkerung hier macht weniger als zwei Millionen Menschen aus, und die Bevölkerung von England sind 56 Millionen. Das allein sagt einem, dass es von sehr geringer Bedeutung für sie ist - außer, wenn in der Vergangenheit Bomben explodiert sind, speziell in London und Manchester." Hinzukomme, dass englische Parteien in Nordirland kaum auf Unterstützung hoffen könnten. "Die Konservativen haben eine kleine Außenstelle hier, aber sie bekommen nie Stimmen. Das Parteiensystem hier ist ein lokales Parteiensystem."
Gefährliche Krawalle
Vor ein paar Wochen ist es an mehreren Orten in Nordirland zu Krawallen gekommen, die auch mit der Unzufriedenheit unter pro-britischen Loyalisten in Verbindung gebracht werden. Dass es erneut zu Ausschreitungen kommen könnte, hält McCall für wahrscheinlich - vor allem in den Sommermonaten, wenn traditionell die Oranier-Märsche stattfinden. Nach Paraden zum Beispiel könnte es wieder zu Gewalt durch Jugendliche kommen, meint er.
Auch wenn die Krawalle in nur einem Fall in Westbelfast zwischen loyalistischen und republikanischen Gruppen stattgefunden hätten und es sich zumeist um loyalistische Angriffe auf die Polizei gehandelt habe: Es gebe ein gewisses Unbehagen, denn auf der Straße könne letztlich alles passieren, sagt McCall. "Der Geist könnte aus der Flasche sein, jemand könnte getötet werden, und das ist es, glaube ich, was die Leute fürchten und worüber die Polizei hier sicherlich sehr besorgt ist."