Die Pandemie hing wie ein Schatten über dem Ereignis, das traditionell eine Gelegenheit für Präsidenten ist, sich selbst zu feiern und den USA eine Liste ihrer Prioritäten vorzulegen. Der hallende Applaus, die verhältnismäßig kurzen Unterbrechungen durch Standing Ovations, die fehlenden Gäste auf den Rängen: All das gab Bidens Premiere am Rednerpult einen weniger bombastischen Anschein, als ihn diese Reden üblicherweise haben. Der Präsident bemühte sich dennoch, seiner Agenda Nachdruck zu verleihen. Und die Erfolge seiner noch kurzen Amtszeit zu feiern. "Nach 100 Tagen der Rettung und Erneuerung ist Amerika bereit zum Abheben. Wir arbeiten wieder. Träumen wieder. Entdecken wieder. Führen die Welt wieder an", sagte Biden.
Und aus Bidens Sicht gab es ja auch viele gute Nachrichten zu verkünden: ein erfolgreiches Impfprogramm, ein großes Covid-Rettungspaket, bessere Beziehungen zu den traditionellen Verbündeten, ein ambitioniertes Klimaziel. Vor nicht ganz 100 Tagen habe er eine „Nation in der Krise“ übernommen, so Biden. Doch schon jetzt sei Amerika wieder in Bewegung gekommen. „Wir verwandeln Gefahr in Chancen, Krisen in Gelegenheiten, Rückschläge in Stärke.“
Temperatur gesenkt
Biden ist es in seiner Amtszeit zudem gelungen, die sprichwörtliche Temperatur in den USA zu senken. Anders als sein Vorgänger Donald Trump betreibt er keinen erratischen Twitter-Account, gibt nur wenige Interviews, tritt seltener als viele seiner Vorgänger öffentlich auf. Das mag daran liegen, dass Biden, der als Kind stotterte, kein überragender Redner ist. Doch es hat den Nebeneffekt, dass der Präsident im Alltag der Amerikaner nicht mehr allgegenwärtig ist. Gerade seine Anhänger begrüßen diese Entwicklung sehr.
Umso größer war die Spannung vor der Rede vor dem Kongress. Wie zu erwarten begann Biden mit der Covid-Pandemie. „Als ich eingeschworen wurde, war weniger als ein Prozent der amerikanischen Senioren geimpft“, so Biden. Es waren nicht nur die Masken und die leeren Sitze im Plenum des Repräsentantenhauses, die die erste Rede von Joe Biden vor einer gemeinsamen Sitzung beider Kongresskammern zu einer ungewöhnlichen Veranstaltung machten. „100 Tage später sind 70 Prozent der Senioren vollständig geschützt.“ Doch er sprach nicht nur über die Erfolge, sondern auch über die Trauer, die der hunderttausendfache Tod in den USA ausgelöst hat. Und über die Schicksalsschläge, die der Covid-Wirtschaftsabsturz ausgelöst hat. Ihm habe sich das Bild eingebrannt, wie sich meilenlange Autoschlangen vor Tafeln angestaut hätten, damit sich die Insassen eine Kiste Lebensmittel in den Kofferraum stellen können. „Haben Sie jemals gedacht, dass Sie so etwas sehen würden?“, so Biden. Dann lobte er das 1,9 Billionen Dollar schwere Rettungspaket, das der Kongress auf seine Initiative hin im März verabschiedet hatte und das unter anderem Geld für Nahrungsmittel-Hilfsprogramme enthält.
Große Reformvorhaben
Den Kern seiner Ansprache bildete jedoch das Werben für die nächsten großen Reformvorhaben des Präsidenten – den American Jobs Act (AJA) und den American Families Plan (AFP). Ersteres ist der Titel von Bidens 2,2 Billionen Dollar schwerem Infrastrukturpaket, Letzteres eine jüngst vorgestellte Sammlung an Maßnahmen, die das soziale Netz in den Vereinigten Staaten massiv ausbauen sollen. Kostenpunkt: rund 1,8 Billionen Dollar.
Zur Gegenfinanzierung sollen die Steuern für Unternehmen und Großverdiener steigen, Steuer-Schlupflöcher geschlossen und die Steuerbehörde IRS gestärkt werden, sodass sie Hinterziehung besser verfolgen kann. So sollen Bidens riesige Ausgaben innerhalb von 15 Jahren abgezahlt werden. Ob es tatsächlich dazu kommt, darüber entscheidet allerdings der tief gespaltene Kongress. Die Bevölkerung unterstützt die Pläne allerdings mit großen Mehrheiten.
Doch Biden nutzte die Bühne im Kongress nicht nur, um die Fortschritte bei der Pandemie-Bekämpfung und seine wirtschaftspolitische Vision für die USA vor einem möglichst großen Publikum auszubreiten. Der Präsident wandte sich auch an die Weltöffentlichkeit. Schließlich will Biden auch hier neue Akzente setzen – angefangen vom Rückzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan nach einem fast 20 Jahre andauernden Einsatz.
Auseinandersetzung mit China
Wichtigstes strategisches Ziel seiner Außenpolitik dürfte allerdings die Auseinandersetzung mit China bleiben – und zu einem geringeren Teil mit Russland. „Wir stehen im Wettbewerb mit China und anderen Staaten, um das 21. Jahrhundert zu gewinnen“, so Biden. Russland müsse klar sein, dass „wir keine Eskalation suchen, aber ihre Handlungen werden Konsequenzen haben“.
Er werde zudem dafür sorgen, dass sich sämtliche Länder der Erde an die wirtschaftlichen Spielregeln halten – auch China. Doch die USA müssten mehr tun, um mit ihren Wettbewerbern Schritt zu halten. „Wir müssen beweisen, dass Demokratie noch funktioniert“, so Biden, „dass unsere Regierung noch funktioniert und dass wir für die Bevölkerung liefern können.“
Dass er seine Administration in dieser Frage auf einem guten Weg sieht, daran ließ der Präsident keinen Zweifel. „Wir impfen die Nation. Wir schaffen Hunderttausende neue Jobs. Wir liefern echte Ergebnisse, die von den Menschen gesehen werden und die sie in ihren Leben spüren“, so Biden, „wir öffnen die Türen der Möglichkeiten. Und wir garantieren Fairness und Gerechtigkeit.“ Nach einer Stunde und fünf Minuten war die Rede dann beendet. „Vielen Dank für Ihre Geduld“, schloss Biden.
unserem Korrespondenten Julian Heißler